Während des Ersten Weltkriegs kam es in allen beteiligten Armeen zu einem beträchtlichen Anstieg venerischer Erkrankungen. Vor Kriegsausbruch litten 5,6 % der österreichisch-ungarischen Soldaten an einer Geschlechtskrankheit, 1915 waren es bereits 12,2 %.
In der Garnison Innsbruck/Hall stieg die Zahl der mit Tripper und Syphilis infizierten Militärpersonen während des Krieges deutlich an. Im Jahr 1909 waren nur 34 Soldaten an Tripper und weitere 24 an Syphilis erkrankt, 1915 wurden bereits 1.691 Tripper- Erkrankungen und 1.007 Syphilis-Infektionen verzeichnet. In den ersten drei Kriegsjahren erkrankten insgesamt 1,275.000 Soldaten der k. u. k. Armee an einer Geschlechtskrankheit. Der Großteil der Soldaten infizierte sich jedoch nicht an der Front, sondern im Hinterland oder während der tagelangen Märsche in den Frontbereich.
Zu den Maßnahmen, die in der österreichisch-ungarischen Armee zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten getroffen wurden, zählte auch das Behandlungsverbot von infizierten Soldaten durch Zivilärzte. Damit sollte die Verbreitung venerischer Krankheiten innerhalb der Armee kontrolliert und eingedämmt werden. Hinzu kam die Anzeigepflicht für solche Krankheiten, der die zuständigen Ärzte jedoch nur unzureichend nachkamen. Die ergriffenen Zwangsmaßnahmen führten oftmals zur Geheimhaltung und damit zur Nichtbehandlung der Erkrankungen. Ab Juli 1916 wurden seitens der Militärbehörden die genaue Auflistung der infizierten Militärs und die Protokollierung ihrer Behandlung gefordert.
Eine weitere Maßnahme bestand in den regelmäßigen Inspektionen der Truppe, umgangssprachlich auch als „Schwanzparade“ bezeichnet. Der Militärarzt untersuchte dabei vor versammelter Mannschaft die Genitalien jedes einzelnen Soldaten auf Symptome einer venerischen Erkrankung. Außerdem sollten Urlaubsanträge von Soldaten, die an einer Geschlechtskrankheit litten, zurückgestellt werden, um deren Verbreitung im Hinterland einzudämmen.
Verschiedene Vertreter der Ärzteschaft zweifelten jedoch an der Wirksamkeit der militärischen Zwangsmaßnahmen. In einem Schreiben des Vereins der Ärzte Deutschtirols vom Oktober 1915 heißt es:
„Es sind heute sämtliche Fachleute der festen Überzeugung, dass die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten durch scharfe polizeiliche Massregeln nicht verhindert, sondern im Gegenteil nur begünstigt wird und dass die einzig richtige Bekämpfungsmethode der Geschlechtskrankheiten darin besteht, allen Kranken die ärztliche Behandlung bis zu ihrer Heilung möglichst leicht zugänglich zu machen. Die Anwendung der Polizeigewalt im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten hat immer nur dazu geführt, dass diese Krankheiten […] noch weit mehr verheimlicht werden, als dies sonst geschieht. Wenn die Ärzte genötigt sind, solche Krankheiten anzuzeigen […], dann gehen die Kranken überhaupt nicht zum Arzte, verzögern dadurch ihre eigene Heilung und gefährden andere Menschen durch die Möglichkeit der Ansteckung.“
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Zitate:
„Es sind heute sämtliche Fachleute …“: Verein der Ärzte Deutschtirols an Statthalterei Innsbruck, 22.10.1915, zitiert nach: Überegger, Oswald: Krieg als sexuelle Zäsur? Sexualmoral und Geschlechterstereotypen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Kulturgeschichtliche Annäherungen, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 356
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Kapitel
- Trennung der Ehepaare und sexuelle Mobilität im Ersten Weltkrieg
- Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs
- „Die Mobilisierung der Wiegen“
- Zwischen staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Ächtung
- Zwischen Enthaltsamkeit und Bedürfnisbefriedigung
- Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k. u. k. Armee
- „Am Anfang widerstehe“
- Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
- Zwischen Vorbeugung und Strafandrohung
- Sexuelle Gewalt im Ersten Weltkrieg
- Sexuelle Gewalt als Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda