Die im Zuge der deutschen Invasion an belgischen und französischen ZivilistInnen verübten Gräueltaten wurden zu einem zentralen Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda. Bilder von geschändeten und verstümmelten Frauen und Kindern sollten die Fortdauer des Krieges rechtfertigen und die Bevölkerung der alliierten Länder für den Krieg mobilisieren.
Zwischen August und Oktober 1914 kam es vonseiten deutscher Truppen zu brutalen Gewaltakten gegenüber der belgischen und französischen Zivilbevölkerung.
Die berüchtigten „German atrocities“ bzw. „atrocités allemandes“ kosteten 5.521 belgischen und ca. 906 französischen ZivilistInnen das Leben. Gerüchte über Massenvergewaltigungen und Verstümmelungen von belgischen und französischen Frauen verbreiteten sich bereits in den ersten Wochen des Krieges, weshalb man in Belgien, Frankreich und Großbritannien eine Untersuchungskommission zur Dokumentation der deutschen Kriegsverbrechen entsprechend der Haager Landkriegsordnung von 1907 einrichtete. Diese bekräftigten die Meldung von massenhaften sexuellen Übergriffen auf die weibliche Zivilbevölkerung durch deutsche Soldaten.
Die Zahl vergewaltigter und verstümmelter Frauen lässt sich heute schwer eruieren. Unabhängig von der konkreten Dimension sahen die Alliierten in den Vergewaltigungen einen zentralen Bestandteil der von deutschen Truppen verübten Gräuel. Geschichten von geschändeten Frauen, abgeschnittenen Brüsten und abgehackten Kinderhänden fanden größte mediale Verbreitung und zeichneten ein entmenschlichtes Bild des deutschen Gegners, mit dem unmöglich über einen Waffenstillstand zu verhandeln sei. Der Wahrheitsgehalt dieser brutalen Anschuldigungen lässt sich nur schwer feststellen. Dennoch spielten solche Schreckensszenarien bei der Konstruktion der deutschen Gräuel und ihrer propagandistischen Verwertung durch die Alliierten eine wesentliche Rolle.
Gräuelmeldungen von Massenvergewaltigungen belgischer und französischer Frauen wurden in den alliierten Ländern zum sinnstiftenden Phänomen. In Großbritannien und Frankreich sah man den Beweggrund für das anhaltende Töten nicht zuletzt darin, weitere solche Taten zu verhindern und die an Frauen und Kindern verübte Gewalt zu rächen. Die Verteidigung der geschlechtlich-familiären Ordnung avancierte zu einem wesentlichen Element alliierter Sinnstiftung. Neben der Mobilisierung der eigenen Bevölkerung für den Krieg diente die propagandistische Instrumentalisierung der deutschen Gräueltaten auch der Beeinflussung der bis dahin noch neutralen Länder, insbesondere Italiens und der Vereinigten Staaten.
Die Gleichsetzung der weiblichen Opfer mit der Nation spielte in der alliierten Kriegspropaganda eine wesentliche Rolle. Die vergewaltigte Frau wurde zum Symbol einer überwältigten und als weiblich imaginierten Nation, welche die Gewalt des brutalen und maskulinen (deutschen) Eindringlings über sich ergehen lassen müsse. Im Falle Belgiens handelte es sich zudem um einen neutralen Staat, weshalb das Bild von der Vergewaltigung des schuldlosen Landes weite Verbreitung fand. Auf Propagandaplakaten der Alliierten finden sich häufig Darstellungen von geschändeten bzw. unschuldigen Frauen als Metapher für die von deutschen Truppen terrorisierten Länder.
Boulevardzeitungen, Populärliteratur, Postkarten und Karikaturen verbreiteten die Vorstellung von dem deutschen Barbaren und seinem belgischen bzw. französischen Opfer. Nicht nur einzelne Täter, sondern das gesamte deutsche Volk, die deutsche Nation wurde für die Schandtaten verantwortlich gemacht. Deutschland wurde zum Inbegriff des Bösen, das selbst vor den grauenhaftesten Verbrechen nicht zurückschreckte. Die deutschen Kriegsgräuel und deren propagandistische Verwertung spielten demnach eine wesentliche Rolle für die Konstruktion des deutschen Feindbilds und die moralische Legitimation des Krieges seitens der Alliierten.
Daniel, Ute: Frauen, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn et al. 2009, 116-134
Gullace, Nicoletta F.: Sexual Violence and Family Honor: British Propaganda and International Law during the First World War, in: The American Historical Review (1997), 102/3, 714-747
Harris, Ruth: The “Child of the Barbarian”: Rape, Race and Nationalism in France during the First World War, in: Past & Present (1993), 141, 170-206
Horne, John/Kramer, Alan: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004
Kramer, Alan: „Greueltaten“. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): 'Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...'. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, 85-114
Rhoades, Michelle K.: Renegotiating French Masculinity. Medicine and Venereal Disease during the Great War, in: French Historical Studies (2006), 29/2, 293-327
-
Kapitel
- Trennung der Ehepaare und sexuelle Mobilität im Ersten Weltkrieg
- Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs
- „Die Mobilisierung der Wiegen“
- Zwischen staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Ächtung
- Zwischen Enthaltsamkeit und Bedürfnisbefriedigung
- Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k. u. k. Armee
- „Am Anfang widerstehe“
- Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
- Zwischen Vorbeugung und Strafandrohung
- Sexuelle Gewalt im Ersten Weltkrieg
- Sexuelle Gewalt als Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda