Infolge der Invasion feindlicher Truppen kam es immer wieder zu Plünderungen, Verwüstungen, Deportationen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen von ZivilistInnen. Sexuelle Übergriffe von Soldaten, die sich auf dem Durchmarsch befanden oder im Besatzungsgebiet stationiert waren, gehörten für die weibliche Bevölkerung zum ‚Kriegsalltag‘.
Als Beispiele verheerender Gewalttaten gegenüber ZivilistInnen sind die von deutschen Soldaten an belgischen und französischen Frauen, Männern und Kindern verübten Gräuel im Sommer und Herbst 1914, die Gewaltverbrechen der k. u. k. Armee gegenüber der serbischen Zivilbevölkerung, die Verfolgung ethnischer Minderheiten während des russischen Rückzugs im Jahr 1915 sowie die Deportation, Folter und Ermordung von Armeniern und Armenierinnen durch türkische Truppen während des armenischen Genozids von 1915–1918 zu nennen. Bei den beiden letztgenannten Beispielen handelte es sich jedoch nicht um Gewaltakte feindlicher Armeen, sondern um Verbrechen gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Über die Anzahl vergewaltigter Frauen liegen keine exakten Daten vor, auch die spezifischen Ausprägungen sexueller Gewalt an den unterschiedlichen Kriegsschauplätzen wurden bislang nur unzureichend erforscht. Es ist jedoch anzunehmen, dass sexuelle Übergriffe – von Massenvergewaltigungen über genitale Verstümmelung bis hin zur sexuellen Folter – den Erfahrungshorizont von Frauen in allen eroberten bzw. besetzten Gebieten maßgeblich prägten. Die von feindlichen Soldaten begangenen Vergewaltigungen folgten keiner Systematik. Es gibt auch keine Hinweise, dass die Armeen eine Politik der gezielten Vergewaltigung betrieben hätten. Sexuelle Übergriffe stellten demnach nur einen von mehreren Aspekten brutaler Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung dar. Die Frauen und Mädchen, die im Rahmen des armenischen Genozids vergewaltigt, gefoltert, versklavt und getötet wurden, waren hingegen Opfer systematischer sexueller Gewalt und Demütigung. Der Großteil dieser sexuellen Übergriffe und Massaker fand während der Deportationsmärsche der armenischen Bevölkerung in Richtung syrischer Wüste statt.
Im Zuge der deutschen Invasion Belgiens und des französischen Nordostens im Sommer und Herbst 1914 kam es zu zahlreichen Vergewaltigungen und Verstümmelungen von Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten. Die Einrichtung einer belgischen, französischen und britischen Untersuchungskommission sollte helfen, die Berichte der Opfer zu sammeln und die deutschen Verbrechen zu dokumentieren. Die sexuellen Übergriffe erfolgten nicht ausschließlich im Verborgenen, hinter verschlossenen Türen, sondern auch in der Öffentlichkeit und in Gegenwart sogenannter ‚Zwangszuschauer’. Die Invasoren demonstrierten auf diese Weise ihre absolute Macht, nicht nur über die Körper der Frauen, sondern auch über die eroberten Gebiete. Sexuelle Gewalttaten feindlicher Soldaten in Anwesenheit männlicher Zivilisten bedeuteten eine zusätzliche Demütigung der Opfer und führten den männlichen Landsleuten ihre eigene Ohnmacht vor Augen.
Bjørnlund, Matthias: ‚A Fate Worse Than Dying’: Sexual Violence during the Armenian Genocide, in: Herzog, Dagmar (Hrsg.): Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe´s Twentieth Century. Houndmills/Basingstoke/Hampshire 2009, 16-58
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Rhoades, Michelle K.: Renegotiating French Masculinity. Medicine and Venereal Disease during the Great War, in: French Historical Studies (2006), 29/2, 293-327
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Kapitel
- Trennung der Ehepaare und sexuelle Mobilität im Ersten Weltkrieg
- Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs
- „Die Mobilisierung der Wiegen“
- Zwischen staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Ächtung
- Zwischen Enthaltsamkeit und Bedürfnisbefriedigung
- Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k. u. k. Armee
- „Am Anfang widerstehe“
- Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
- Zwischen Vorbeugung und Strafandrohung
- Sexuelle Gewalt im Ersten Weltkrieg
- Sexuelle Gewalt als Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda