Als man im Herbst 1918 in Prag begann, konkrete Schritte für einen Umsturz zu setzen, waren die Akteure überrascht von der Passivität der staatlichen Organe. Dies offenbarte die innere Erschöpfung des alten Systems und die Orientierungslosigkeit der Wiener Zentralregierung. Die Vermeidung einer gewaltsamen Eskalation schien das alleinige Ziel zu sein.

Im August 1918 war die Situation der k. u. k. Armee bereits so verfahren, dass Gerüchte von einem baldigen militärischen Zusammenbruch aufkamen. Nachdem die zivile Verwaltung an der Versorgungskrise gescheitert war und in den Augen der Öffentlichkeit ihre Autorität verloren hatte, begann mit der Armee nun auch der letzte Stützpfeiler kaiserlicher Macht zu wanken. Unter den Proponenten einer staatlichen Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken in Prag wurde dies als „Window of Opportunity“ für den entscheidenden Schritt gesehen. Vorbereitungen für einen Machtwechsel wurden getroffen.

Die separatistischen Kreise der tschechischen Politszene, die ihre wichtigste Plattform im Tschechoslowakischen Nationalausschuss um Karel Kramář fanden, nützten ihr Netzwerk, um Kontakte zu Offizieren der k. u. k. Armee zu knüpfen, die als loyal gegenüber der tschechoslowakischen Sache eingestuft wurden. Aber auch in der Beamtenschaft wurden Vertrauensleute angeworben: Zollbeamte sollten im Ernstfall die Grenzen dicht machen und Eisenbahner den Verkehr lahmlegen, um Truppenverschiebungen zu unterbinden. Eine Schlüsselrolle spielte in den Überlegungen der national-tschechische Turnerverein Sokol, der über ein dichtes Netz von Niederlassungen verfügte und die Verbindung zu den Massen herstellen sollte.

Als im September 1918 die Westmächte die im Pariser Exil gebildete interimistische Regierung der Tschechoslowakei anerkannten, forderte deren Sprecher Edvard Beneš die heimischen Politiker auf, in keinerlei Verhandlungen mit der kaiserlichen Regierung zu treten. Dies wurde von allen Parteien eingehalten. Als am 11. Oktober eine Abordnung  tschechischer Politiker zu einer Audienz bei Kaiser Karl geladen war, wo man ihnen eine Teilnahme an der Regierung anbieten wollte, lehnten diese jegliche Zusammenarbeit mit den Wiener Zentralstellen ab.

Im Gegenteil – die Mitglieder des Nationalausschusses forderten die Ausstellung von Diplomatenpässen, um mit Vertretern des politischen Exils in der neutralen Schweiz zusammentreffen zu können. Deren überraschende Ausstellung durch österreichische Behörden wurde in Prag als Freibrief gesehen: Die Kontaktaufnahme mit Masaryk galt nun nicht mehr als Hochverrat.

Aber auch das links-revolutionäre Lager begann nun seine Aktivitäten zu verstärken. Am 14. Oktober riefen die Sozialdemokraten zum Generalstreik auf und versuchten die Führung zu übernehmen. Die geplante Ausrufung einer sozialistischen tschechoslowakischen Republik misslang jedoch. Dies war eine Warnung für die bürgerlichen nationalen Kreise, dass die Zeit drängte. Die Angst vor einer bolschewistischen Revolution ging um.

Das am 16. Oktober veröffentlichte Völkermanifest Karls I. wurde vom Nationalausschuss abgelehnt, der sich bereits als alleiniges Sprachrohr der „tschechoslowakischen Nation“ verstand. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass das kaiserliche Angebot einer Umgestaltung der Monarchie nach ethnischen Grundsätzen nur die österreichische Reichshälfte berührte. Dies hätte die Forderung nach einer Vereinigung mit den zur ungarischen Reichshälfte zählenden Slowaken verunmöglicht. Außerdem hätte die Föderalisierung der Monarchie eine Spaltung der Böhmischen Länder in einen deutschen und einen tschechischen Teil zur Folge gehabt, was tschechischerseits durch die Forderung nach dem Erhalt der historischen Grenzen ebenfalls abgelehnt wurde.

Dieses halbherzige und verspätete Angebot Karls legte auch den Autoritätsverlust des Kaisers offen, der seine Handlungsmacht verloren hatte. Am 26. Oktober erschien in den tschechischen Medien ein Aufruf von Edvard Beneš, dem Generalsekretär der exilierten interimistischen Regierung der noch als virtueller Staat existierenden Tschechoslowakei, in dem zu Ruhe und Ordnung aufgerufen wurde. Dass eine Erklärung von Beneš, der zuvor noch als Hochverräter gesucht wurde, bei der Zensur durchging, war für die Massen ein klares Signal, dass die Behörden eine Eskalation vermeiden wollten – egal, wer dafür sorgte.

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Gottsmann, Andreas (Hrsg.): Karl I. (IV.), der Erste Weltkrieg und das Ende der Donaumonarchie, Wien 2007    

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Kučera, Rudolf: Muži října 1918. Osudy aktérů vzniku Republiky Československé [Die Männer des Oktobers 1918. Schicksale der Akteure der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik], Praha 2011

Pacner, Karel: Osudové okamžiky Československa [Schicksalhafte Momente der Tschechoslowakei] (3. Aufl.), Praha 2012

Šedivý, Ivan: Češi, České země a velká válka 1914–1918 [Die Tschechen, die Böhmischen Länder und der Große Krieg 1914–1918], Praha 2001

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse