Das Ziel der staatlichen Unabhängigkeit: von der Utopie zum massentauglichen Programm

Der rasante Autoritätsverlust der staatlichen Organe (vor allem angesichts des Versagens bei der Sicherung der alltäglichen Bedürfnisse der Bevölkerung) schuf ein Vakuum, in das die Verfechter einer staatlichen Unabhängigkeit der Tschechen stießen. Diese ursprünglich avantgardistische Idee wurde im Laufe des Jahres 1918 für immer mehr Menschen zur gangbaren Option.

Am 6. Januar 1918 traf im Prager Gemeindehaus (Obecní dům) eine Abordnung tschechischer Reichsratsabgeordneter mit einigen slowakischen Vertretern zusammen, um eine gemeinsame Erklärung zur nationalen Zukunft abzugeben. Es war dies eine Reaktion auf Wilsons 14-Punkte-Programm, laut dem den Völkern Österreich-Ungarns „freieste Gelegenheit der autonomen Entwicklung“ gewährt werden sollte.

In dieser Dreikönigsdeklaration wurde das nationale Selbstbestimmungsrecht der Tschechen und Slowaken eingefordert mit der Perspektive der Bildung eines tschechoslowakischen Staates innerhalb des Rahmenwerkes der Habsburgermonarchie. Dieses Grundsatzpapier wurde zunächst von den k. k. Behörden konfisziert, später aber doch zur Veröffentlichung freigegeben.

Das vorsichtige Entgegenkommen der kaiserlichen Regierung, der die Brisanz der Entwicklung in Prag bewusst war, konnte nicht verhindern, dass die Forderungen an  Radikalität zunahmen. Immer größere Teile der tschechischen Öffentlichkeit bekannten sich offen zur Unterstützung der Ziele der politischen Exilanten rund um Masaryk, nämlich einer vollkommenen Unabhängigkeit und der Zerschlagung der Habsburgermonarchie.

Es kam zu Solidaritätsaktionen von Künstlern und Intellektuellen, bei denen zum Kampf für die „nationale Sache“ aufgerufen wurde. Im Mai 1918 bildeten sich rund um die Feierlichkeiten aus Anlass des 60-Jahr-Jubiläums des Prager Nationaltheaters spontane Massendemonstrationen, bei denen Rufe wie „Es lebe Wilson, es lebe Masaryk!“ zu hören waren. Obwohl die Kundgebungen rasch polizeilich aufgelöst wurden, war offensichtlich, dass die ursprüngliche extremistische Minderheitenposition einer staatlichen Unabhängigkeit die Massen erreicht hatte.

Als Sprachrohr der separatistischen Bewegung im Inland bildete sich am 13. Juli 1918 der Tschechoslowakische Nationalausschuss (Československý národní výbor), der Politiker verschiedenster Couleurs in sich vereinigte. Trotz der Bezeichnung „tschechoslowakisch“ handelte es sich dabei de-facto um einen nationalen Ausschuss der Tschechen, da kein einziger Slowake vertreten war. Dies war bezeichnend für den „Bohemozentrismus“ in der tschechischen Interpretation des  Konzepts des Tschechoslowakismus.

Zum Vorsitzenden wurde Karel Kramář gewählt, ein prominenter Politiker der nationaldemokratischen Staatsrechtspartei. Kramář war 1915 des Hochverrates angeklagt und zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde nie vollstreckt, und Kramář kam durch die Amnestie Kaiser Karls 1917 frei.

Der tschechoslowakische Nationalausschuss war das erste Organ dieser Art in Österreich-Ungarn. Seine Konstituierung wurde von den staatlichen Behörden akzeptiert, um eine Verschärfung der Situation zu vermeiden. Dadurch gab man den tschechischen Unabhängigkeitsbestrebungen eine neue Plattform. Im Laufe des Sommers unterstützten diese auch politische Kräfte wie die klerikalen und christlichsozialen Parteien, die bis dahin der Habsburgermonarchie loyal gegenüber gestanden waren.

 

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Kučera, Rudolf: Muži října 1918. Osudy aktérů vzniku Republiky Československé [Die Männer des Oktobers 1918. Schicksale der Akteure der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik], Praha 2011

Šedivý, Ivan: Češi, České země a velká válka 1914–1918 [Die Tschechen, die Böhmischen Länder und der Große Krieg 1914–1918], Praha 2001

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Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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