Delenda Austria – Österreich ist zu zerschlagen!
Angesichts der autoritären Maßnahmen, die während des Ersten Weltkriegs das politische Leben und die zarten Ansätze einer Demokratisierung in Österreich-Ungarn zerstörten, hatten die im Inland verbliebenen politischen Vertreter der Tschechen wenig Spielraum. Politiker im Exil übernahmen die Initiative, um aktiv an der Entstehung eines unabhängigen tschechischen Staates zu arbeiten.
Eine herausragende Rolle fiel dabei dem Prager Universitätsprofessor für Philosophie und österreichischen Reichsratsabgeordneten Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) zu. Masaryk etablierte sich schon um 1900 als gewichtige Stimme und moralische Instanz in der tschechischen politischen Öffentlichkeit. Er trat entschieden gegen nationalistische Utopien auf und orientierte sich an westeuropäischen Modellen. Als Vertreter des Tschechoslowakismus engagierte er sich für eine Vereinigung der Tschechen mit den Slowaken. Er kämpfte für eine Föderalisierung und Demokratisierung Österreich-Ungarns und veröffentlichte 1895 sein Programm für die Zukunft der Tschechen im Rahmen einer reformierten Habsburgermonarchie in der Schrift Česká otázka (Die tschechische Frage).
Angesichts des zunehmend autoritären Vorgehens der Wiener Regierung ab 1914 (Schließung des Reichsrats, verschärfte Zensurmaßnahmen, Unterstellung der zivilen Verwaltung unter das Armeekommando) kam Masaryk zur Einsicht, dass die Habsburgermonarchie nicht reformierbar sei. Er gab nun offen einer demokratisch-republikanischen Staatsform den Vorzug. Sein radikales Programm für eine Zukunft außerhalb des Rahmens der Habsburgermonarchie war damals noch für den Großteil der tschechischen Öffentlichkeit unvorstellbar. Seine Standpunkte fasste er in seinem 1918 publizierten Buch The New Europe zusammen, das – beeinflusst von US-Präsident Woodrow Wilson und seinem Postulat vom Selbstbestimmungsrecht der Völker – in einer demokratischen Tschechoslowakei die zukünftige Heimat der Tschechen und Slowaken propagierte.
Nachdem er bei einer Vortragsreise in Westeuropa erfahren hatte, dass ihm bei seiner Rückkehr nach Prag Gefängnis und Anklage wegen Hochverrats drohten, ging Masaryk Ende 1914 ins Exil nach Paris. Den Kontakt zur heimischen Szene hielt er über die sogenannte „Maffia“ aufrecht, ein im Geheimen operierendes Netzwerk von Sympathisanten aus dem national-tschechischen Lager.
Masaryk widmete sich im Exil vornehmlich dem Lobbying, mit dem Ziel, die tschechoslowakische Sache in die Medien zu bringen und unter den politischen Entscheidungsträgern ein Bewusstsein über den nationalen Befreiungskampf der Völker der Habsburgermonarchie zu schaffen. Zunehmend verlagerte sich der Fokus auf die USA, wo Masaryk in Kontakt zu landsmannschaftlichen Vereinen trat und eine Art „pressure group“ von Auslandstschechen schuf.
Seine ursprüngliche Argumentationslinie, wonach ein zu schaffender tschechoslowakischer Staat ein Korrektiv für deutsche Expansionsgelüste in Mitteleuropa darstellte, fand jedoch bei den politischen Zirkeln in den USA wenig Verständnis, da diese über die nationalen Komplikationen in Zentraleuropa wenig informiert waren. Erst als Masaryk von nationalen Aspekten abließ und Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung als vorrangige Ziele definierte, bekam er volle Unterstützung.
Angesichts Präsident Wilsons berühmter Rede vom 3. Januar 1918 (Programm des Weltfriedens, auch bekannt als „Wilsons 14 Punkte“) erklärten die USA Ende Mai offiziell ihre Sympathie für die nationalen Anliegen der Tschechoslowaken und Südslawen. Von einer Zerschlagung der Habsburgermonarchie war aber noch keine Rede.
Im Juni 1918 kam es jedoch zu einem radikalen Wandel in der Haltung der USA gegenüber Österreich-Ungarn, als die US-Regierung in einem Memorandum das Ende der Herrschaft von Deutschen und Magyaren über die Slawen Mitteleuropas forderte. Grund dafür war, dass nach der Sixtus-Affäre mit einem Abrücken Österreichs vom Bündnis mit Deutschland nicht mehr zu rechnen war.
Auch bei den westeuropäischen Mächten machte sich ein Umschwung bemerkbar: am 29. Juni 1918 anerkannte Frankreich den unter der Leitung Masaryks 1916 gebildeten Tschechoslowakischen Nationalrat (Československá národní rada) als höchste Interessenvertretung der Tschechen und Slowaken. In der Folge gaben auch Großbritannien und die USA ähnliche Erklärungen ab. Diese internationale Zustimmung zur Etablierung einer unabhängigen Tschechoslowakei – was indirekt die Zerschlagung der Habsburgermonarchie implizierte – versetzte der Wiener Regierung einen Schock.
Nachdem die US-Regierung am 3. September 1918 eine diplomatische Note an Masaryk übergab, in welcher der Tschechoslowakische Nationalrat als de-facto Regierung der Tschechen und Slowaken anerkannt wurde, proklamierte Masaryk am 26. September die Errichtung eines souveränen Tschechoslowakischen Staates. Dies wurde in Prag als Startschuss für den Umsturz verstanden.
Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Masaryk, Tomáš Garrigue: Die Weltrevolution 1914–1918 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1925), (= Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen, Reihe 8, Bd. 11), Hannover 2008
Šedivý, Ivan: Češi, České země a velká válka 1914–1918 [Die Tschechen, die Böhmischen Länder und der Große Krieg 1914–1918], Praha 2001
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Kapitel
- Delenda Austria – Österreich ist zu zerschlagen!
- Das Ziel der staatlichen Unabhängigkeit: von der Utopie zum massentauglichen Programm
- Vorbereitungen für den Umsturz
- Der Tag des Umsturzes: 28. Oktober 1918
- Die Gründung der Tschechoslowakei
- Die Tschechoslowakische Republik als Nachfolgestaat Österreich-Ungarns
- Die tschechoslowakischen Legionen
- Der Sturz der Symbole der habsburgischen Herrschaft