Als sich in Prag die Ereignisse überstürzten, war die einheimische Führungsriege gerade in Genf, um sich mit dem Generalsekretär des exilierten Tschechoslowakischen Nationalrates, Edvard Beneš, über weitere Schritte in Richtung Unabhängigkeit zu beraten. Dass in Prag eine selbstständige Tschechoslowakei ausgerufen wurde, erfuhren die Herren erst aus der Zeitung.

Die ganze Tragweite des Umsturzes in Prag war jedoch aus den ersten bruchstückhaften Meldungen nicht herauszulesen. Die im Ausland weilenden politischen Führer meinten weiterhin, dass man mit der Ausrufung der Selbstständigkeit bis zu ihrer Rückkehr warten würde. Nachdem man erkannte, dass der Umsturz bereits geschehen war, wurden als Reaktion auf das Prager fait accompli die Genfer Beschlüsse verabschiedet, in denen die Gründung einer Republik verlautbart wurde, an deren Spitze Masaryk als Präsident stehen sollte. Die politische Führungsriege kehrte erst am 2. November nach Prag zurück, Masaryk traf überhaupt erst im Dezember ein. Seine Ankunft in Prag entwickelte sich zu einem Triumphzug.

Die provisorische tschechoslowakische Nationalversammlung trat am 14. November 1918 erstmals zusammen. In ihrem ersten Beschluss erklärte sie das Haus Habsburg für abgesetzt. In diesem Gremium fehlten bereits deutsche Abgeordnete, denn diese hatten am 29. Oktober den Anschluss der deutschsprachigen Gebiete der Böhmischen Länder an Deutschösterreich proklamiert und sich ins Exil nach Wien begeben.

Die deutschsprachigen Teile Böhmens und Mährens, die an den jungen Staat Deutschösterreich angegliedert werden sollten, bildeten einen Kranz um das tschechische Kernland und beinhalteten außerdem auch Sprachinseln, die ebenfalls als deutschösterreichisches Staatsgebiet reklamiert wurden. Die Ausrufung einer Provinz Deutsch-Böhmen mit der Hauptstadt Reichenberg (tschech. Liberec) wurde von tschechoslowakischer Seite nicht akzeptiert, da man in Prag auf den historischen Landesgrenzen bestand. Separatistische Aktionen in den deutschsprachigen Gebieten wurden 1918/19 mit Militärgewalt unterdrückt, wobei auch Tote zu beklagen waren. Ebenfalls in einen bewaffneten Konflikt führte der Streit mit Polen um Territorien um Teschen (tschech. Těšín bzw. poln. Cieszyn) im ehemaligen Österreichisch-Schlesien, der schließlich zu einer Aufteilung der strittigen Gebiete führte.

In diesen teils gewaltsamen Auseinandersetzungen wurde die unterschiedliche Auslegung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung offenbar, das damals ein allgegenwärtiges politisches Schlagwort darstellte. In der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Argumentation der territorialen Ansprüche kam auch ein gewisser innerer Widerspruch zum Vorschein. Denn im Fall der Böhmischen Länder pochte man in Prag auf die geschichtliche Tradition des böhmischen Staatsrechts und die Unverletzbarkeit der historischen Grenzen, auch wenn diese nicht mit den ethnischen Verhältnissen übereinstimmten. Im Fall der Slowakei jedoch, die auf keine staatsrechtlichen Traditionen zurückblicken konnte, argumentierte man mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht, das die Herauslösung der beanspruchten Gebiete aus dem historischen Königreich Ungarn rechtfertigen sollte.

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

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Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Kučera, Rudolf: Muži října 1918. Osudy aktérů vzniku Republiky Československé [Die Männer des Oktobers 1918. Schicksale der Akteure der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik], Praha 2011

Pacner, Karel: Osudové okamžiky Československa [Schicksalhafte Momente der Tschechoslowakei] (3. Aufl.), Praha 2012

Šedivý, Ivan: Češi, České země a velká válka 1914–1918 [Die Tschechen, die Böhmischen Länder und der Große Krieg 1914–1918], Praha 2001

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

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