Die Tschechoslowakische Republik als Nachfolgestaat Österreich-Ungarns
Die völkerrechtliche Anerkennung der Tschechoslowakischen Republik geschah durch die Pariser Vororteverträge 1919/20. Mit ca. 20% der Fläche der ehemaligen Monarchie war die Tschechoslowakei der größte der Nachfolgestaaten.
Der neugegründete Staat wurde in vier Länder unterteilt: Böhmen (Čechy) mit der Hauptstadt Prag (Praha), Mähren und Schlesien (Morava a Slezsko) mit der Hauptstadt Brünn (Brno), die Slowakei (Slovensko) mit der Hauptstadt Pressburg (Bratislava) und schließlich die Karpato-Ukraine (Karpatská Ukrajina/Карпатська Україна) mit der Hauptstadt Uschhorod (Užhorod/Ужгород). Das Staatsgebiet hatte eine gewaltige West-Ost-Erstreckung von 928 km.
Aus dem Territorium der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie wurden der Tschechoslowakei die historischen Länder Böhmen und Mähren sowie ein Großteil des ehemaligen Österreichisch-Schlesiens zugesprochen – hier kam es zu Gebietsstreitigkeiten mit Polen um das Gebiet von Teschen (tschech.: Těšín bzw. poln.: Cieszyn). Weiters konnte Prag die Abtretungen von kleineren Gebieten Niederösterreichs – es handelte sich um einige Gemeinden um Feldsberg (tschech.: Valticko) und einen Landstrich westlich von Gmünd (tschech.: Vitorazsko) – sowie von Deutschland (Hultschiner Ländchen/tschech.: Hlučinsko) durchsetzen. Aus dem Bereich der ungarischen Reichshälfte reklamierte die tschechoslowakische Regierung die Slowakei und die Karpato-Ukraine für sich. Die neuen Grenzen wurden nur zum Teil nach ethnischen Grundsätzen gezogen. Im Vordergrund standen wirtschaftspolitische und verkehrstechnische Maßgaben – es galt, ökonomisch überlebensfähige Territorien zu schaffen. Die Grenzziehung geschah zuungunsten der Deutschen und Magyaren, deren Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung man ignorierte.
Der neue tschechoslowakische Staat hatte gute wirtschaftliche Voraussetzungen, denn allein auf dem Territorium der Böhmischen Länder (ohne die Slowakei und die Karpato-Ukraine) wurden vor 1918 rund 70% der Industrieerzeugnisse Österreich-Ungarns produziert. Man hatte wie in den anderen Nachfolgestaaten mit den Folgen der Nachkriegsdepression zu kämpfen. Das traditionelle Absatzgebiet ging zunächst verloren, denn die ehemalige Monarchie war nun durch neue Zollgrenzen getrennt, und der wirtschaftliche Protektionismus der Nachfolgestaaten tat sein Übriges. Auch hatte die Tschechoslowakei mit dem extremen Ungleichgewicht zwischen den industriell hochentwickelten Böhmischen Ländern und der in vielen Belangen rückständigen Slowakei und der Karpato-Ukraine zu kämpfen. Dennoch verfügte man über vergleichsweise gute Startbedingungen.
Ein weiterer Erbteil aus der Konkursmasse der k. u. k. Monarchie war die ethnische Vielfalt: Auch die Tschechoslowakei wurde ein Vielvölkerstaat. Neben dem Staatsvolk der Tschechen und Slowaken, die zusammen 8,8 Millionen zählten (= 64 % der Gesamtbevölkerung) existierten zahlenmäßig starke Minderheiten. Die Deutschen waren mit 3,1 Millionen die größte und kamen auf beachtliche 23 % der Bevölkerung. Weitere ethnische Minderheiten bildeten die Magyaren (0,75 Mio bzw. 5,5 %), Ruthenen (0,46 Mio bzw. 3,4 %) und Polen (0,1 Mio bzw. 0,8 %). Den Juden (0,18 Mio bzw. 1,3 %) wurde erstmals der Status einer eigenen Nation zuerkannt.
Der „Tschechoslowakismus“, wonach es sich bei den Tschechen und Slowaken um eine gemeinsame Nation handelte, bildete das ideologische Fundament des neugegründeten Staates. Die daraus resultierende numerische Stärke des tschechoslowakischen Staatsvolkes zwang die übrigen ethnischen Gruppen – hier in erster Linie die Deutschen und Magyaren – in die Rolle von Minderheiten. Trotz nationaler Differenzen etablierte sich die parlamentarisch-demokratische Ordnung rasch, was zur Entschärfung der nationalen Antagonismen beitrug. Ab 1926 waren „Aktivisten“, wie man die mit den staatlichen Stellen der Tschechoslowakei kooperationsbereiten Vertreter der Minderheiten nannte, aus verschiedenen Parteien der deutschsprachigen Minorität nun ständig als Minister in der Regierung vertreten.
Der sudetendeutsche Separatismus erstarkte erst wieder in den dreißiger Jahren. 1933 wurde die Sudetendeutsche Heimatfront (später Sudentendeutsche Partei) unter Konrad Henlein gegründet, deren Hauptforderung ein Anschluss der deutschsprachigen Gebiete an Deutschland war. Vor dem Hintergrund der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Berlin erhöhte Heinlein, dessen Partei bei den Wahlen von 1935 68 % der deutschen Wählerstimmen für sich verbuchen konnte, den Druck auf die Prager Regierung. Die folgenden tragischen Ereignisse führten schließlich zum Ende des tschechisch-deutschen Zusammenlebens in den Böhmischen Ländern.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
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Kapitel
- Delenda Austria – Österreich ist zu zerschlagen!
- Das Ziel der staatlichen Unabhängigkeit: von der Utopie zum massentauglichen Programm
- Vorbereitungen für den Umsturz
- Der Tag des Umsturzes: 28. Oktober 1918
- Die Gründung der Tschechoslowakei
- Die Tschechoslowakische Republik als Nachfolgestaat Österreich-Ungarns
- Die tschechoslowakischen Legionen
- Der Sturz der Symbole der habsburgischen Herrschaft