Schmelztiegel Großstadt I: Wien – Migration zu Kaisers Zeiten

Als Residenz des Kaisers und Hauptstadt der österreichischen Reichshälfte war Wien das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum der Habsburgermonarchie und damit ein bedeutender Anziehungspunkt für Zuwanderer. Die Stadt erlebte im 19. Jahrhundert ein enormes Wachstum.

Mit 1,7 Millionen Einwohnern war Wien um 1900 eines der größten urbanen Zentren Europas. Zum Vergleich: London zählte damals 4,5 Millionen Einwohner, Paris 2,7 Millionen und Berlin 1,9 Millionen.

Um 1900 erlebte die größte Stadt der Habsburgermonarchie eine Phase enormen Wachstums. Binnen weniger Jahrzehnte kam es dank massiver Zuwanderung zu einer Verdreifachung der Wohnbevölkerung. So waren damals nur 46 % der WienerInnen auch in der Stadt geboren, während die Mehrheit der Einwohner zugewandert war.

Der Herkunft nach stammte die größte Gruppe der Zuwanderer mit ca. 400.000 Personen – dies entspricht etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung – aus den böhmischen Ländern. Die MigrantInnen wurden jedoch nicht nach ihrem ethnischen Background erfasst, sondern nur über ihre Geburtsorte. Demnach stammten 44,1 % der aus Böhmen, Mähren und Schlesien Zugewanderten aus rein tschechischsprachigen Bezirken, 28,6 % aus überwiegend tschechischen Bezirken und nur 11,4 % aus mehrheitlich deutschsprachigen Bezirken dieser Länder. Etwas anders sieht die Verteilung gemäß den offiziellen Zahlen aus: 1910 bekannten sich ca. 100.000 WienerInnen (5,4 % der  Wohnbevölkerung) zur tschechischen Umgangssprache. Der tatsächliche Anteil wird jedoch deutlich höher angenommen, da die tschechischen Migrantinnen einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt waren.

Die zweitgrößte Gruppe von Neo-WienerInnen mit ca. 250.000 Personen waren Zuwanderer aus den österreichischen Erbländern, also aus Kronländern, die größtenteils heute Teil Österreichs sind. Diese Gruppe umfasste aber auch Personen aus nicht deutschsprachigen Gebieten wie Krain, Küstenland oder dem Trentino. Weitere 100.000 Menschen stammten aus Galizien, der Bukowina sowie Dalmatien.

Einen eigenen Status hatten die 140.000 Personen, die aus der ungarischen Reichshälfte zugewandert waren. Diese StaatsbürgerInnen Ungarns – darunter befanden sich ethnische Ungarn genauso wie Slowaken, Kroaten, Deutsche, etc. – galten seit dem Ausgleich von 1867 als AusländerInnen.

Der Anteil „tatsächlicher“ AusländerInnen, also Angehöriger anderer Staaten mit Ausnahme der jeweils anderen Reichshälfte, war gering: 1910 machten sie in der österreichischen Reichshälfte 2,1 %, in Ungarn gar nur 1,3 % der Bevölkerung aus. In Wien wurden damals ca. 23.000 deutsche StaatsbürgerInnen („Reichsdeutsche“), 4.000 BürgerInnen des russischen Zarenreiches sowie 2.500 italienische StaatsbürgerInnen gezählt.

Die Wiener Stadtpolitik versuchte auf die massiven Migrationsbewegungen mit eher restriktiven Maßnahmen zu reagieren. Ein wichtiges Regulativ war das sogenannte Heimatrecht. Denn nicht alle WienerInnen waren vollberechtigte BürgerInnen der Stadt. Um diesen Status zu erlangen, musste man das Heimatrecht erwerben, denn erst damit waren das Recht auf ungestörten Aufenthalt und der Anspruch auf kommunale Hilfsleistungen (z. B. Versorgung im Alter oder bei Erwerbslosigkeit durch städtische Wohlfahrtseinrichtungen) verbunden.

Die Vergabe war sehr restriktiv, denn erst nach zehnjährigem Aufenthalt und entsprechender Steuerleistung war man berechtigt, um das Heimatrecht anzusuchen. Daher waren um 1900 nur 38 % der StadtbewohnerInnen auch in Wien heimatberechtigt. 

Die Verleihung des Heimatrechtes wurde auch als Mittel einer forcierten Assimilation eingesetzt. Unter Bürgermeister Karl Lueger erweiterte man den Bürgereid um den Zusatz, „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrechtzuhalten“. Der Hintergrund dafür bildete die Abwehr der Forderungen der zahlenmäßig größten Gruppe der Zuwanderer, der in Wien ansässigen Tschechen, nach öffentlichen Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache. Dafür wäre eine Anerkennung des Tschechischen als landesübliche Sprache notwendig gewesen – eine Forderung, die erst nach 1918 erfüllt werden sollte. Die Verleihung des Heimatrechtes war seit Lueger verbunden mit dem Verbot der Mitgliedschaft in tschechischen Vereinen und mit der verbindlichen Option für deutsche Schulbildung. InhaberInnen des Wiener Heimatrechtes wurden in Folge auch bei Volkszählungen automatisch als deutschsprachig registriert.

Bibliografie 

Brousek, Karl M.: Wien und seine Tschechen. Integration und Assimilation einer Minderheit im 20. Jahrhundert [Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 7] , Wien 1980

Csáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010

Csendes, Peter/ Opll, Ferdinand (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006

Glettler, Monika: Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 28), München 1972

John, Michael/Lichtblau, Albert: Schmelztiegel Wien – einst und jetzt: Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten; Aufsätze, Quellen, Kommentare, (2. Aufl.), Wien/Köln/Weimar 1993

Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930. Katalog der 93. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 1985, Wien 1985

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

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Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.