Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – Die Patentlösung für ethnische Konflikte?

Für die Nationalbewegungen der Völker der Habsburgermonarchie galt die völlige kulturelle und politische Autonomie oder gar der eigene Nationalstaat als das Endziel der nationalen Entfaltung. Das Schlagwort vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war in aller Munde.

Das Problem lag jedoch in der Umsetzung, denn angesichts der extrem durchmischten ethnischen Zusammensetzung Zentraleuropas konnte es keine Lösung ohne die Verletzung von Rechten und Ansprüchen Anderer geben.

Eine seit der Revolution 1848 immer wiederkehrende und niemals realisierte Forderung war die Umgestaltung der Monarchie in einen Bundesstaat, was eine Neuorganisation der Kronländer bedeutet hätte – denn ihre historischen Grenzen stimmten nur in den wenigsten Fällen mit den ethnischen Grenzen überein. Erst im Oktober 1918 schlug Kaiser Karl die Föderalisierung als letztes Mittel vor, um die Habsburgermonarchie zu retten. Zu diesem Zeitpunkt wurde dieses verspätete Entgegenkommen allerdings nicht mehr ernst genommen, denn die staatliche Souveränität als Nationalstaat oder die Vereinigung mit den Konationalen im außerhalb der Monarchie liegenden „Mutterland“ lag zum Greifen nahe – und war eine verlockendere Perspektive als der weitere Verbleib im vom Nationalitätenstreit erschöpften Reich der Habsburger.

Dabei waren die Perspektiven der kleineren Nationen unter dem Szepter Habsburgs bei Kriegsausbruch wenig positiv gewesen. Im Falle des Sieges der Mittelmächte wäre eine prekäre Existenz in einem deutsch-dominierten Mitteleuropa die Folge gewesen. Lange Zeit war auch vonseiten der Entente-Mächte wenig Unterstützung zu erwarten. Denn in Westeuropa wusste man wenig über die Situation und die Interessen der kleinen Nationen im östlichen Teil des Kontinents. Für weite Teile der politischen Öffentlichkeit der westeuropäischen Länder stellten die Gebiete östlich des deutschen Sprachraumes mit ihrer obskuren Durchmischung von Völkern und Sprachen weiße Flecken auf der mentalen Landkarte dar. Damit hatten auch die exilierten Vertreter der kleinen Völker zu kämpfen, die beim Lobbying für ihre Anliegen unter den westlichen Verbündeten erst ein Bewusstsein für ihre Forderungen schaffen mussten.

In den Augen der Westmächte galt die Habsburgermonarchie, die zwar als reformbedürftig, aber per se als erhaltenswert gesehen wurde, als Garant für eine gewisse Stabilität im europäischen Zwischenraum. Selbst bei Verlautbarung der 14 Punkte durch US-Präsident Wilson im Januar 1918 war zwar von weitreichenden Autonomierechten für die einzelnen Nationalitäten die Rede, die aber weiterhin im Rahmen der Habsburgermonarchie realisiert werden sollten.

Um hier einen Meinungsumschwung in Gang zu setzen, trafen sich die Vertreter der zentraleuropäischen Nationalitäten im April 1918 in Rom zu einem Kongress der „unterdrückten Völker Österreich-Ungarns“. Es sollte international demonstriert werden, dass die kompromissorientierte Zusammenarbeit zwischen den kleinen Nationalitäten in Zentraleuropa funktionierte. Denn die Gefahr der Zersplitterung und „Balkanisierung“ der Region war das wichtigste Argument der Austrophilen, die den Weiterbestand der Habsburgermonarchie als Regulativ gegen nationalistischen Extremismus befürworteten. Mehr als die bisherigen nationalen Argumente, die für westliche Betrachter undurchschaubar waren, brachte die nun propagierte Deutung des Krieges als Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie im Westen große Sympathien ein.

Im Frühjahr 1918 erfolgte schließlich ein Richtungswechsel bei den Westmächten. Angesichts der Unwahrscheinlichkeit der Abkehr Österreich-Ungarns vom Bündnis mit Deutschland bildete nun die Zerschlagung des Habsburgerreiches kein Tabu mehr. Nach Meinung der Entente sollten bei der Neuordnung Europas nach Kriegsende auch in Zentraleuropa Nationalstaaten entstehen. Dieser fundamentale Kurswechsel wurde zum „Sargnagel“ für die weitere Existenz der Habsburgermonarchie. Für die nicht-deutschen und nicht-magyarischen Volksgruppen der Monarchie, die bisher nur eine Existenz als zweitrangige Nebendarsteller geführt hatten, lag die Realisierung ihrer nationalen Selbstbestimmung in Griffweite.

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

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    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

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