Konfliktort Schule: Nationale Agitation im Klassenzimmer
Schulpolitik war in der alten Habsburgermonarchie ein ideologisch stark vermintes Gebiet. Wie sehr hier nationale Emotionen den Blick verstellten, zeigen Beispiele, wo schulpolitische Entscheidungen zu nationalistischer Eskalation führten und die Monarchie in ihren Grundfesten erschütterten.
Der Cillier Schulstreit, der 1895 die Wogen hochgehen ließ, war der folgenreichste nationale Konflikt im Schulwesen, dessen Schockwellen weit über den ursprünglich lokalen Rahmen reichten.
Hintergrund war der Emanzipationskampf der steirischen Slowenen aus der kulturellen Hegemonie der deutschsprachigen Steirer. Die Stadt Cilli (slowen. Celje) war eine deutsche Sprachinsel in der ansonsten slowenisch geprägten Untersteiermark. Die Vertreter der Slowenen, die ihre benachteiligte Stellung gegen die deutschsprachige Dominanz auf dem Unterrichtssektor verbessern wollten, forderten die Einführung von slowenischen Parallelklassen im örtlichen Gymnasium, um den eklatanten Mangel an slowenischen höheren Schulen in der Steiermark zu beheben. In der Sache legitim, entfachte sich der Streit um den Standort, denn die örtliche deutsche Honoratiorenschicht sah sich als Bastion des Deutschtums, während sich die Slowenen auf Cilli als Standort versteiften („Cilli oder nichts!“), um ihren Anspruch als regionale Mehrheit zu unterstreichen. Der lokale Disput wuchs sich in der aufgeladenen Atmosphäre zu einem ernsten politischen Konflikt aus, denn es kam nun erstmals zu einem Ausscheren der deutschen Abgeordneten der Alpenländer aus der Konsenspolitik der Regierung. Der Cillier Schulstreit wurde innerhalb der deutschsprachigen politischen Szene zu einem Symbol der Wende zu einem betont kämpferischen nationalen Standpunkt.
Doch nicht nur in den Provinzen des Reiches bestimmte chauvinistische Agitation die Schulpolitik. Auch in Wien, der multiethnisch geprägten Metropole der Monarchie, wurde die Schule zum Schauplatz nationaler Verteilungskämpfe, wie das Beispiel der Wiener Tschechen zeigt. Aufgrund massiver Migrationsströme wurden die Tschechen zu der bedeutendsten nicht-deutschen Sprachgruppe in der Stadt. Ihre Forderung nach muttersprachlichem Unterricht wurde 1896/97 durch eine Verordnung des niederösterreichischen Landtages abgewiesen, die Deutsch als ausschließliche Unterrichtssprache für alle öffentlichen Schulen Niederösterreichs, zu dem Wien damals gehörte, festlegte.
Die tschechische Community Wiens ließ diese Verordnung beim Reichsgericht (entspricht in seiner Funktion dem heutigen Verfassungsgerichtshof) anfechten, das jedoch 1904 dem Tschechischen trotz der zahlenmäßigen Stärke seiner Sprecher den Status einer landesüblichen Sprache nicht zuerkannte, was die Grundlage für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht bildete. Denn nach der Auffassung des Obersten Gerichtshofes sollte dieser Status nur historischen, autochthonen Ethnien zugebilligt werden, während die Anwesenheit von Tschechen in Wien nach Meinung der Verfassungsrichter nur ein rezentes Migrationsphänomen darstellte.
Auch hier überstiegen die Reaktionen den lokalen Rahmen. Die Wiener tschechische Gemeinde erhielt Unterstützung von der gesamten tschechischen Politszene. Die Tschechen sahen sich in ihrer nationalen Entfaltung benachteiligt und wollten den multiethnischen Charakter der Reichshauptstadt des österreichischen Vielvölkerstaates betont wissen, der in ihren Augen längst aufgehört hatte, ein deutsch geführter Einheitsstaat zu sein. „Wien will sich um die geistigen Bedürfnisse der tschechischen Bevölkerung nicht kümmern, es benimmt sich nicht wie die erste Stadt des österreichischen Staatsgefüges, sondern wie die Hauptstadt einer deutschen Ostmark“, merkte ein zeitgenössischer Kommentator bitter an.
Auf die Proteste der Tschechen im Reichsrat folgten Unterstützungskundgebungen der deutschnationalen Szene. Diese bekannte sich zur „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt“, wie von Bürgermeister Karl Lueger gefordert, und verwehrte sich gegen jegliche Tendenzen, der Reichshauptstadt einen „multikulturellen“ Charakter zu verleihen.
Die Unnachgiebigkeit der Wiener Schulbehörden führte dazu, dass die tschechischsprachigen Pflichtschulen des Komenský-Schulvereines als Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht geführt werden mussten. Zur Ablegung von Prüfungen in tschechischer Sprache blieb den SchülerInnen nichts anderes übrig, als in die mährische Grenzstadt Lundenburg (tschech. Břeclav) zu fahren, wo sich die nächste öffentliche tschechische Schule befand. Die Anerkennung des Öffentlichkeitsrechtes der Wiener tschechischen Schulen erfolgte erst nach 1918 in der Ersten Republik.
Brousek, Karl M.: Wien und seine Tschechen. Integration und Assimilation einer Minderheit im 20. Jahrhundert (Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 7), Wien 1980
Csáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Scheu, Harald Christian: Die Stellung von Minderheiten und Volksgruppen in Wien zwischen 1918 und 1934, in: Soukupová, Blanka u. a. (Hrsg): Mýtus – „realita“ – identita. Státní a národní metropole po první světové válce [Urbanní studie 3], Praha 2012, 33–53
Zitat:
„Wien will sich ...“: Artikel aus der Zeitung „Der Parlamentär“, 1892, zitiert nach Csáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010, 143
-
Kapitel
- Schmelztiegel Großstadt I: Wien – Migration zu Kaisers Zeiten
- Schmelztiegel Großstadt II: Prag
- Schmelztiegel Großstadt III: Budapest und Pressburg
- Konfliktort Schule: Nationale Agitation im Klassenzimmer
- Der Mährische Ausgleich: Ein Lichtschein am Ende des Tunnels?
- Das Islamgesetz von 1912: Ein Beispiel für die integrative Kraft des Vielvölkerreiches
- Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – Die Patentlösung für ethnische Konflikte?