Das Islamgesetz von 1912: Ein Beispiel für die integrative Kraft des Vielvölkerreiches
1912 wurde der Islam als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft in der österreichischen Reichshälfte staatlich anerkannt. In der christlichen Staatenwelt Europas nahm die Habsburgermonarchie in dieser Sache eine Vorreiterrolle ein. Das Gesetz gilt in Grundzügen bis heute.
Das Reichsgesetzblatt Nr. 159/1912 war das Ergebnis einer vorsichtigen Auseinandersetzung mit dem Islam und seinem weitreichenden Einfluss auf Gesellschaft und Recht der Muslime. Die staatliche Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft in Cisleithanien war ein Versuch, die Muslime in der Habsburgermonarchie auch außerhalb Bosniens zu integrieren.
Durch die Okkupation (1878) und Annexion (1908) Bosniens und der Herzegowina wurde ein Land mit muslimischer Bevölkerung Teil der Habsburgermonarchie. Im Zuge der Integration Bosniens in die Gesamtmonarchie zogen Muslimen auch in andere Reichsteile, sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich.
Das Ausmaß der Migration war allerdings relativ gering: In Cisleithanien bekannten sich bei der Volkszählung von 1910 insgesamt 1.446 Personen zum Islam. Die meisten Muslime waren mit 699 Personen in Niederösterreich, zu dem damals auch Wien gezählt wurde, zu finden. Die Angaben sind jedoch ungenau, denn oft wurden Muslime in der Statistik auch unter andere Konfessionen geführt.
Das größte Hindernis für die Integration stellte aus dem Blickwinkel der k.k. Administration die unterschiedliche organisatorische Struktur der muslimischen Glaubensgemeinschaft dar, denn diese war weit weniger hierarchisch gegliedert als christliche Konfessionen. Auch beziehen sich die Regeln des Islam in viel stärkerem Maße als bei anderen Konfessionen nicht nur auf die religiösen Praktiken der Gläubigen, sondern auch auf viele andere Bereiche des Alltaglebens, des Familien- und Strafrechts und der Gemeindeorganisation.
Deshalb wurden die bestehenden Gesetze über die freie Religionsausübung als unzureichend angesehen. Die neu geschaffenen gesetzlichen Rahmenbedingungen waren deshalb maßgeschneidert für die Verhältnisse unter den bosnischen Muslimen. Das Islamgesetz von 1912 bezog sich ausdrücklich auf die Anhänger des Islams des hanafitischen Ritus. Die Hanafiten sind die bedeutendste Richtung des sunnitischen Islams, der über 40 % der Muslime angehören, und die in der Türkei und im Nahen Osten sowie – in diesem Fall ausschlaggebend – in den europäischen Gebieten des osmanischen Reiches vorherrschend war.
Trotz des weitreichenden Entgegenkommens brachte das neue Gesetz auch Beschränkungen mit sich. So wurde z. B. im Familienrecht das Verbot der Polygamie ausgesprochen und der Abschluss einer Zivilehe vorgeschrieben. Da das Führen eigener Matriken, wie es christlichen und jüdischen Gemeinden erlaubt war, den Muslimen verboten wurde, waren diese auf staatliche Standesämter angewiesen.
Das Potenzial des Islamgesetzes wurde nie gänzlich ausgeschöpft, da die Habsburgermonarchie nur mehr wenige Jahre bestehen sollte. So gelang es nicht, für Muslime in Cisleithanien ähnliche Gemeindestrukturen zu entwickeln wie für christliche und jüdische Konfessionen. Daher kamen sie auch nicht in den Genuss der Privilegien, die laut Gesetz staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften zustanden.
Auch der Bau einer Moschee in Wien wurde durch den Kriegsausbruch 1914 verhindert, obwohl Kaiser Franz Joseph eine Geldspende von stolzen 250.000 Gulden versprochen und die Gemeinde Wien den Baugrund am Laaer Berg zur Verfügung gestellt hatte.
Nach dem Zerfall der Monarchie lebten kaum noch Muslime in Österreich bzw. Wien. Die Frage stellte sich erst wieder angesichts der Zuwanderung von Gastarbeitern ab den 1960er Jahren. Das Islamgesetz, das auch in der Republik weiterhin in Kraft blieb, wurde erst 1988 erweitert, als die Beschränkung auf die hanafitisch-sunnitische Richtung aufgehoben und die Bestimmungen auf alle Varianten des Islam ausgedehnt wurden.
Heine, Susanne / Lohlker, Rüdiger / Potz, Richard: Muslime in Österreich. Geschichte – Lebenswelt – Religion. Grundlagen für den Dialog, Innsbruck 2012
Karčić, Fikret: The Bosniaks and the Challenges of Modernity, Sarajevo 1999
Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985
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Kapitel
- Schmelztiegel Großstadt I: Wien – Migration zu Kaisers Zeiten
- Schmelztiegel Großstadt II: Prag
- Schmelztiegel Großstadt III: Budapest und Pressburg
- Konfliktort Schule: Nationale Agitation im Klassenzimmer
- Der Mährische Ausgleich: Ein Lichtschein am Ende des Tunnels?
- Das Islamgesetz von 1912: Ein Beispiel für die integrative Kraft des Vielvölkerreiches
- Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – Die Patentlösung für ethnische Konflikte?