Schleichhandel, Preistreiberei und Selbstversorgung

Die Ernährungssituation als Thema der Briefkommunikation

Mit Verlauf des Krieges nahm die Ernährungssituation in der cisleithanischen Reichshälfte der k. u. k. Monarchie und hier insbesondere in Städten wie Wien katastrophale Ausmaße an. Zwar versuchten die verantwortlichen Stellen mittels Rationierung, der Einführung „Fleischloser Tage“, etc. eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten, an der tristen Lage der späteren Kriegsjahre änderte dies aber wenig. Schleichhandel und Preistreiberei führten zunehmend zu einer weit verbreiteten Verbitterung der Bevölkerung und zu einer Atmosphäre des allgemeinen Misstrauens.
 

Von einem „Bürgerkrieg im Hinterland“ sprach Mathilde Hanzel in einem ihrer Briefe an ihren Ehemann, in dem sie am 8. Januar 1918 die von unerschwinglichen Preisen, Mangel und Schleichhandel geprägte Versorgungssituation in Wien schilderte: „Überall ist jetzt Schleichhandel, Mehl 12-17 K, Zucker 6 K, Fett 24-32 K (= Krone, Anm. I.R.G.), kurzum es ist schändlich und es ist höchste Zeit, daß der Krieg aufhört, sonst fallen immer mehr Waren dem Schleichhandel zum Opfer und die große Allgemeinheit muß sich zu Tode darben.“

Die Abwesenheit ihres Ehemannes bedeutete für Mathilde Hanzel, wie für einen Großteil der Frauen im Ersten Weltkrieg, dass sie die Verantwortung für die Versorgung und Ernährung der Kinder und Familienangehörigen hauptsächlich alleine zu tragen hatte. Um ihre beiden Töchter ausreichend ernähren zu können, versuchte sie – ebenso wie weite Teile der Wiener Bevölkerung – sich mit anderen Mitteln und auf anderen Wegen mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern zu versorgen. Diese aus der Notwendigkeit heraus entwickelten Strategien der Selbstversorgung reichten vom Eigenanbau von Gemüse und Erdäpfeln über Unterstützungsleistungen von Familienmitgliedern und Freunden bis zu sogenannten „Hamsterfahrten“ ins Umland von Wien. Über das „Hamstern“ schrieb Mathilde Hanzel beispielsweise im Herbst 1917. „Für den Winter will ich nicht nur Äpfel vorkaufen, sondern auch weiße Rüben und Karotten. Wir begannen schon, Rüben zu hamstern, es ist schier unglaublich, was man alles noch in diesem Krieg unternimmt.“

Der sogenannte „Rucksackverkehr“ aufs Land stellte ein Massenphänomen dar, das im Laufe des Krieges immer mehr zunahm. Da die Versorgungslage in vielen ländlichen Gebieten besser war als in der Stadt, sahen sich Bauern „einem regelrechten Ansturm“ der Stadtbevölkerung gegenüber. Zwar versuchte man von offizieller Seite diese „Hamsterfahrten“ einzuschränken, indem Bahnhöfe verstärkt kontrolliert, Rucksäcke von Fahrgästen durchsucht und entdeckte Waren beschlagnahmt wurden. Dies war jedoch wenig effizient und traf bei der Wiener Bevölkerung auf kein Verständnis.

Bibliografie 

Breiter Marion: Hinter der Front. Zum Leben der Zivilbevölkerung im Wien des Ersten Weltkrieges, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1991

Hautmann, Hans: Hunger ist ein schlechter Koch. Die Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Botz, Gerhard/Hautmann, Hans (Hrsg.): Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien/München/Zürich 1978, 661-682

Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, 2. Auflage, Cambridge/New York 2006

Rebhan-Glück, Ines: „Wenn wir nur glücklich wieder beisammen wären …“ Der Krieg, der Frieden und die Liebe am Beispiel der Feldpostkorrespondenz von Mathilde und Ottokar Hanzel (1917/18), Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2010

 

Zitate:

„Bürgerkrieg im Hinterland“ : Mathilde Hanzel an Ottokar Hanzel, 08.01.1918, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Überall ist jetzt Schleichhandel ...“: Mathilde Hanzel an Ottokar Hanzel, 08.01.1918, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Für den Winter will ich nicht nur Äpfel ...“: Mathilde Hanzel an Ottokar Hanzel, o. D., Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„einem regelrechten Ansturm“: Breiter Marion, Hinter der Front. Zum Leben der Zivilbevölkerung im Wien des Ersten Weltkrieges. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 1991, 77

Zwar versuchte man von offizieller Seite …“: Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, 2. Auflage, Cambridge/New York 2006, 55

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Person

    Mathilde Hanzel (geb. Hübner)

    Die in Wien wohnhafte Bürgerschullehrerin Mathilde Hanzel engagierte sich während des Ersten Weltkriegs im Umfeld des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins wiederholt für den Frieden.

  • Person

    Ottokar Hanzel

    Der im Zivilberuf als Gymnasiallehrer tätige Ottokar Hanzel aus Wien war während des Ersten Weltkriegs als Landsturm-Hauptmann an der Italienfront eingesetzt.

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?