‚Kriegsbegeisterung‘ versus Sehnsucht nach Frieden

Aus der Perspektive der Gegenwart lassen einen die bildlichen Zeugnisse der öffentlichen ‚Kriegsbegeisterung‘ vom August 1914 meist mit Verwirrung und auch etwas Hilflosigkeit zurück. Nach den Kriegs- und Genoziderfahrungen des 20. Jahrhunderts ist es kaum nachvollziehbar, dass der Ausbruch eines Krieges derart begrüßt wurde. Dennoch bezeugen Fotodokumente, dass Menschenmassen in Wien, Berlin oder Paris darüber ‚jubelten‘, wie es damals hieß.
 

Viele Intellektuelle und Künstler, so die Historiker Matthias Rettenwander und Oswald Überegger, versuchten ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse während jener Augusttage mit der Begrifflichkeit einer „klassenlosen“ Volksgemeinschaft zu erklären. Als sogenanntes „Augusterlebnis“ wurde diese zeitgenössische Perspektive, so stellen die beiden Historiker fest, auch von der historischen Forschung bis vor wenigen Jahren meist ohne Kritik übernommen. Allerdings haben regional-, alltags-, und erfahrungsgeschichtliche Untersuchungen in den letzten Jahren durchaus Zweifel an der postulierten allgemeinen ‚Kriegsbegeisterung‘ aufkommen lassen. Jüngere Studien zeigen, dass es sich hierbei keineswegs um eine Stimmung handelte, die von allen gleichermaßen geteilt wurde, sondern dass von Beginn an viele kritische und besorgte Stimmen existierten.

Zwischen geradezu euphorischer und kritischer Stimmung bewegten sich auch die Briefe des Ehepaares Hanzel aus den ersten Kriegsmonaten. So schrieb Ottokar Hanzel am 3. August 1914 an seine Ehefrau: „Die Menschenbewegung, die jetzt vor sich geht u. an der ich teilnehme, ist überwältigend u. ohne Beispiel in der Geschichte. Nur ein moderner Staat, der technisch gerüstet ist, kann sie leisten. Bisher klappt hier alles gut. Viele sind begeistert, fast alle von uns voll Entschlossenheit, an diesem Kriege, der ganz Europa ergreift, mitzuwirken.“

In seinen Briefen aus dieser Zeit wurde die „Stärke“ und „Macht“ des Bündnispartners Deutschland ebenso beschworen wie der Kampfeswille und Mut der österreichisch-ungarischen Truppen. Ottokar Hanzel vermerkte im August 1914: „Wir freuen uns alle über das machtvolle Auftreten Deutschlands, das einzig in der Weltgeschichte dasteht. Wir vertrauen auf die vereinte Kraft von Österreich und Deutschland u. lassen uns nicht bange machen.“

Mathilde Hanzel dagegen sah den Kriegsausbruch durchaus mit kritischen Augen. Sie schrieb bereits am 12. August 1914: „Ich beklage tief jeden Tropfen Blutes, der in diesem Kriege fallen mußte, und noch muß. Ja, Vaterland, Ehre, Recht, ich anerkenne das und tue meine Schuldigkeit; aber daß im 20. Jahrhundert die sogenannten Zivilisierten kein andres Auskunftsmittel finden können als Krieg? Welch Debakel der Menschheit. Kämpfen, Siegen, Sterben, Verderben der Hinterbliebenen. Wir haben noch keine Kultur!“

Diese kritische Einstellung zum Krieg behielt Mathilde Hanzel während des gesamten Kriegsverlaufs bei. Und auch in den Briefen ihres Ehemannes nahm die anfängliche positiv gefärbte Kriegsstimmung zunehmend ab. Wie der Großteil der Frontsoldaten und der Bevölkerung der k. u. k. Monarchie war er zu Beginn des Kriegs davon überzeugt, dass der Krieg kurz und spätestens zu Weihnachten 1914 mit dem Sieg der Habsburgermonarchie und Deutschlands beendet sein würde. Als im Dezember 1914 jedoch kein Ende des Krieges in Sicht war, wurden in Ottokar Hanzels Briefen erste kritische Töne lesbar. So schrieb er am 4. Dezember 1914: „Der moderne Krieg ist furchtbar. Er legt jedem Kämpfer ungeheure, dauernde Entbehrungen, Strapazen u. leider nur zu oft unsagbares Leiden auf.“

Bibliografie 

Überegger, Oswald/Rettenwander, Matthias: Leben im Krieg. Die Tiroler Heimatfront im Ersten Weltkrieg, Bozen 2004

 

Zitate:

„Viele Intellektuelle und Künstler ... “: Überegger, Oswald/Rettenwander, Matthias, Leben im Krieg. Die Tiroler Heimatfront im Ersten Weltkrieg, Bozen 2004, 7

„Die Menschenbewegung, die jetzt ...“: Ottokar Hanzel an Mathilde Hanzel, 03.08.1914, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Stärke und Macht des Bündnispartners“: Ottokar Hanzel an Mathilde Hanzel, 16.08.1914, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Wir freuen uns alle ...“: Ottokar Hanzel an Mathilde Hanzel, 03.08.1914, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Ich beklage tief jeden ...“: Mathilde Hanzel an Ottokar Hanzel, 12.08.1914, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

„Der moderne Krieg ist ...“: Ottokar Hanzel an Mathilde Hanzel, 04.12.1914, Sammlung Frauennachlässe, Nachlass 1, Institut für Geschichte der Universität Wien

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „In Verbindung bleiben“

    Der Erste Weltkrieg trennte oft über mehrere Jahre hinweg tausende Familien voneinander. Umso wichtiger war es für jeden Einzelnen, den Kontakt zu den Lieben in der Ferne aufrecht zu erhalten. Viele bis dahin im Schreiben ungeübte Menschen griffen nun zu Bleistift oder Füllfeder und versuchten, schriftlich mit ihren abwesenden Familien, Freunden und Bekannten in Verbindung zu bleiben.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Person

    Mathilde Hanzel (geb. Hübner)

    Die in Wien wohnhafte Bürgerschullehrerin Mathilde Hanzel engagierte sich während des Ersten Weltkriegs im Umfeld des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins wiederholt für den Frieden.

  • Person

    Ottokar Hanzel

    Der im Zivilberuf als Gymnasiallehrer tätige Ottokar Hanzel aus Wien war während des Ersten Weltkriegs als Landsturm-Hauptmann an der Italienfront eingesetzt.

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?