Der Kanon der Großmächte, wie er im Wiener Kongress (1814/15) im Sinne der Gleichgewichtspolitik festgelegt wurde, bekam gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutliche Risse. In Europa hatte sich das Machtgefüge verschoben.
In Gestalt Deutschlands und Italiens waren neue politische Größen entstanden. Beide Länder stellten nach einer langen Phase der nationalen Einigung gefestigte Nationalstaaten dar. Gleichzeitig verloren „klassische“ Großmächte an Bedeutung. So brachte der rasant fortschreitende Zerfall des Osmanischen Reiches Sand in das Getriebe der europäischen Politik. Aber auch die durch innere Krisen in ihren Grundfesten erschütterte Habsburgermonarchie wurde mehr und mehr zu einem Koloss auf tönernen Beinen.
Deutschland entwickelte sich zur bestimmenden Kraft in Mitteleuropa. Nach der 1871 erfolgten Einigung als Ergebnis der konsequenten Großmachtpolitik Bismarcks beanspruchte das Deutsche Kaiserreich unter der Herrschaft der Hohenzollern eine seiner Bedeutung entsprechende Rolle in der globalen Politik. Das aggressive Auftreten führte zu einer Vertiefung der Gegnerschaft zu Frankreich und Russland. Aufgrund massiver kolonialistischer Aktivitäten brachte sich Berlin nun auch in Konkurrenz zu seinem traditionellen Verbündeten Großbritannien. Deutschland stand zunehmend isoliert in Europa, was zum Großteil durch eine unsensible Diplomatie selbst verschuldet war. 1904 schlossen Frankreich und Großbritannien in Gestalt der „Entente cordiale“ ein Defensivbündnis, das 1907 durch die Erweiterung auf Russland zur „Triple Entente“ erweitert wurde. Deutschland sah in der Einkreisung durch feindliche Mächte eine existenzielle Bedrohung.
Großbritannien, das sich primär für den Ausbau und in der Festigung seines weltumspannenden Kolonialreiches engagierte, war am Erhalt des Status quo in Europa interessiert. In den Augen Londons galt es, das traditionelle europäische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, welches durch den drohenden Aufstieg Deutschlands zur bestimmenden Kontinentalmacht empfindlich gestört würde.
Frankreich wiederum sann seit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 auf Revanche: Die Proklamation Wilhelms I. zum Kaiser des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles wurde als nationale Erniedrigung empfunden. Das Verhältnis zu Berlin war von einer ständigen Vertiefung des deutsch-französischen Gegensatzes geprägt, das sich im Bemühen Frankreichs um einen Rückgewinn von Elsass-Lothringen, das 1871 an Deutschland abgetreten werden musste, manifestierte.
Das russische Zarenreich versuchte seine innere Krise zu überwinden und seinen Status als Großmacht wieder zu festigen. In der russischen Europapolitik äußerte sich dies in einer Wiederaufnahme einer aktiven Politik auf dem Balkan und im Schwarzmeergebiet gegen das Osmanische Reich. Hier profilierte sich Russland als Schutzmacht der orthodoxen Balkanslawen. Das russische Engagement in Südosteuropa kollidierte mit den Interessen Österreich-Ungarns, das seine Expansionsbestrebungen ebenfalls auf den Balkanraum konzentrierte. Im gesamteuropäischen Spiel der Mächte stellte Russland für die Westmächte einen wichtigen Partner dar, der dem deutschen Hegemoniestreben im Osten Einhalt gebieten sollte.
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