Der „kranke Mann an der Donau“

Die Stellung Österreich-Ungarns in Europa

Zar Nikolaus II. prägte angesichts des unaufhaltsamen Zerfalls des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert das Bild vom „kranken Mann am Bosporus“. Ein weiteres Großreich in der Krise war Österreich-Ungarn.

Der Verlust der Lombardei (1859) und Venetiens (1866) sowie die Niederlage in der Schlacht von Königgrätz 1866 markierten den Abstieg des Habsburgerreiches. Die Monarchie hatte unter Franz Joseph ihren Hegemonieanspruch in Deutschland und Italien, auf dem traditionellerweise das Selbstverständnis der österreichischen Monarchie als Großmacht beruhte, endgültig verloren. Die Einigung Italiens (1860/61) und Deutschlands (1871) zu Nationalstaaten degradierte die Habsburgermonarchie zu einer Großmacht zweiten Ranges.

Dennoch wurde das Reich der Habsburger aufgrund seiner Größe und besonderen geopolitischen Funktion als mehr oder weniger stabiler Rahmen für das bunte Völkergemisch Zentral- und Südosteuropas von den anderen Mächten immer noch als entscheidend für das europäische Gleichgewicht betrachtet.

Es war aber gerade die Existenz als Vielvölkerstaat, welche die Position der Doppelmonarchie im Konzert der Mächte verkomplizierte. Denn die Forderungen der verschiedenen ethnischen Gruppen im Zeitalter des grassierenden Nationalismus blieben niemals nur ein Problem der Innenpolitik, sondern hatten massive Auswirkungen auf die Außenpolitik. Die tschechische, südslawische oder polnische Frage beeinflusste den Handlungsspielraum der Doppelmonarchie. Vor allem der Irredentismus unter den Italienern, Serben, Rumänen und Ruthenen, deren jeweilige „Mutterländer“ den Anspruch einer Schutzmacht stellten, und deren langfristige Forderungen auf einen Anschluss an die Konationalen außerhalb der Monarchie hinausliefen, rüttelte an den Grundfesten der territorialen Integrität der Monarchie. Auch die deutsche Sprachgruppe, deren privilegierte Stellung als „Staatsvolk“ zunehmend in Frage gestellt wurde, war in ihrer Identität hin- und hergerissen zwischen österreichischem Patriotismus und Deutschnationalismus.

Ein besonders gefährliches Beispiel der engen Verquickung von Innen- und Außenpolitik aufgrund der Nationalitätenproblematik war die Balkanpolitik, wo sich Österreich-Ungarn als expandierende Großmacht profilieren wollte. Die 1878 erfolgte Okkupation von Bosnien-Herzegowina bedeutete vordergründig einen Gebietsgewinn. Jedoch verengte sich dadurch der außenpolitische Blickwinkel immer stärker auf den Balkan. Das bewusst aggressive Auftreten Österreich-Ungarns führte zu einem Interessenkonflikt mit Russland und verstärkte die Notwendigkeit eines Bündnisses mit Deutschland.

Dieses wurde 1879 als sogenannter „Zweibund“ geschlossen. Obwohl Österreich in diesem Bündnis eindeutig die Rolle eines Juniorpartners einnahm, wurde die politische Anlehnung an Deutschland zur bestimmenden außenpolitischen Konstante in den letzten Jahrzehnten des Bestehens der Monarchie.

1882 vergrößerte sich die deutsch-österreichische Allianz durch den Beitritt Italiens zum „Dreibund“. Für Österreich-Ungarn bedeutete dies eine Sicherung der Südgrenze, da der Irredentismus der Italiener nun neutralisiert wurde. Italien galt jedoch v. a. aus Sicht der Habsburgermonarchie, die im Apenninenstaat eher einen Konkurrenten als einen Interessenpartner sah, als unsicherer Partner.

Innenpolitisch hatte die Aufgabe der Großmachtaspirationen Ressourcen freigegeben für die Modernisierung der Habsburgermonarchie auf politischem, sozialem und ökonomischem Gebiet. Ab den 1870er Jahren durchlebte die Doppelmonarchie zwei Jahrzehnte der Konsolidierung und eine letzte Blütezeit, bevor um 1900 innere Konflikte das Habsburgerreich in die finale Krise führten.

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