Filmdokumente: Nach der Katastrophe
Die Schattenseiten der k. u. k. Monarchie und des Ersten Weltkrieges sind kaum in das visuelle Gedächtnis eingegangen, da die filmischen Bilder dazu oftmals fehlen. Armut, Krankheit, soziale Dünkel, Ausgrenzung, nationale und ideologische Konflikte, schließlich Kriegsgräuel und Massensterben – all das konnten nur wenige Laufbilder andeuten.
Erst in der Republik machte es sich die „Staatliche Filmhauptstelle“ zur Aufgabe, auf Missstände hinzuweisen und Aufklärung zu betreiben. Was in der Monarchie verschleiert wurde, suchte man nun auch mit der Filmkamera festzuhalten.
1918 war das Habsburgerreich materiell erschöpft. Mit seiner Auflösung verschlimmerte sich die Lage noch, ein eingespielter Wirtschaftsraum zerfiel. Der Austausch von Rohstoffen und Nahrungsmitteln zwischen den ehemaligen Kronländern der Donaumonarchie kam zeitweilig zum Erliegen. 1918/19 gab es keine Vorräte mehr, die man hätte ausliefern können. Städtische Behörden und Repräsentanten der Siegermächte stellten fest, dass durch die Absperrung der Lebensmittelzufuhren aus Böhmen, Mähren und Ungarn der Bevölkerung täglich lediglich 750 statt des notwendigen Minimums von rund 2.000 Kalorien zur Verfügung standen. Wo immer etwas zur Verteilung gelangte, bildeten sich endlose Schlangen hilfsbedürftiger Menschen. Von der Einstellung der tschechoslowakischen Kohlelieferungen waren nicht nur Industrie- und Verkehrsunternehmen, sondern auch private Haushalte betroffen. Einblicke in den Notzustand der Nachkriegsgesellschaft gewährt ein Film, der anlässlich des Ablebens des ehemaligen Wiener Polizeipräsidenten und Bundeskanzlers Johann Schober 1932 mittels Archivaufnahmen produziert worden war („In memoriam Dr. Schober”, A 1932): Essensrationen und Selbsthilfeaktionen, wie das Suchen von Brennholz in den angrenzenden Wäldern, schufen nur kurzfristig Abhilfe. Die Bevölkerung schritt nun, unbehelligt von den Behörden, zur Selbsthilfe. Ganze Wälder wurden abgeholzt, um sich mit dem dringend benötigten Brennmaterial zu versorgen.
Kälte, Hunger und Krankheiten schlugen vor allem in Wien erbarmungslos zu. Medizinische Untersuchungen erbrachten alarmierende Resultate. 80 Prozent aller Wiener Kinder galten als schwer unterernährt. Hier registrierte man außerdem eine auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich hohe Zahl an Tuberkuloseerkrankungen. Den gesundheitlichen Folgen der schlechten Lebensbedingungen begegnete die Stadtverwaltung mit modernen Behandlungsmethoden. Ein wesentlicher Rückgang von Sterbefällen konnte schon im Laufe der Zwanzigerjahre verzeichnet werden. Dennoch galten nach Untersuchungen in den Volksschulen noch im Frühjahr 1927 knapp 50 Prozent der Wiener Kinder als tuberkulös. Die Produktion „Das Kinderelend in Wien“ (A 1919) zeigt in drastischer Weise die reale Situation der Nachkriegsgesellschaft, allen voran die der Kinder. Vergleichende Filmaufnahmen stellen unter Beweis, wie sich der Allgemeinzustand der Bevölkerung verschlechtert hat. In Abfällen wird nach Nahrung gesucht, aus Mangel an Wohnungen wird in Eisenbahnwaggons gelebt. Rachitis, Skrofulose und Tuberkulose setzen dem Nachwuchs zu. Auch unter den Kindern gibt es Kriegsversehrte. Sie sind die späten Opfer des Krieges.
Eigner, Peter/Helige, Andrea (Hrsg.): Österreichische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/München 1999
Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995