Filmische Leerstelle 1: Soziale Gegensätze
Standesdünkel und soziale Gegensätze charakterisierten das „Reichsgefüge“. Aristokraten und Teile des Bürgertums mochten die Herrschaft der Habsburger als „gute Zeit“ empfinden. Für das Gros der Unterprivilegierten auf dem Land und in den Städten blieb das Leben hingegen beschwerlich.
Mittelbäuerliche Schichten und patriarchalische Strukturen prägten das traditionsverhaftete Dorfleben im Gebiet der späteren österreichischen Republik. In den Städten erhofften sich viele eine Beschäftigung, um die Arbeitsbedingungen war es dort aber ebenfalls schlecht bestellt. Auch im frühen 20. Jahrhundert dominierte in zahlreichen Wirtschaftsbereichen das Handwerk. Lehrlinge und Gesellen sahen sich oft mit Perspektivlosigkeit, Krankheit, schlechten Arbeits- und Wohnverhältnissen konfrontiert. Die Sozialgesetzgebung und die Entstehung von Selbsthilfeorganisationen brachten erst allmählich Verbesserungen. Diese Milieus, mit den begleitenden tristen Lebensumständen, sparten die filmischen Chronisten aus. Dabei fehlte es nicht an Widersprüchen. Die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung manifestierte sich in den Schlössern und Palais der „Gründerzeit“, aber auch in Elendsquartieren, in Landflucht und Emigration.
Eingang in den Bilderkanon fanden hingegen „audiovisuell präsentable“ Bevölkerungsteile. Dazu zählte etwa das Bürgertum, obwohl nur sieben Prozent der Einwohner in der österreichischen Hälfte der k. u. k. Monarchie dieser Gruppe zuzurechnen waren. Davon gehörte wiederum eine extrem schmale Schicht wohlhabenden Kreisen an, die Banken und Großbetriebe leiteten und von einer zunehmenden Industrialisierung vorrangig profitierten. Zudem vergrößerte sich das Heer der Beamten und Angestellten, der Greißler, Gast- und Schankwirte. Die Aufnahmen „Wien gegen Ende des Ersten Weltkrieges“ (A ca. 1918) präsentieren Bürger und deren Kinder beim Freizeitgenuss im Wiener Volksgarten und im Stadtpark.
Ein Zeugnis der beklemmenden Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse gibt der Film „Typen und Szenen aus dem Wiener Volksleben“ (A 1911). Mit sarkastischem Humor offeriert man hier andere Seiten der Residenzstadt. Eine betagte Frau muss sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Blumen sichern. Heruntergekommene Männer sind auf der Suche nach Alkohol – ein Spiegel der Zeit. Triste Arbeitsbedingungen und familiäres Elend trieben viele Männer in den Alkoholismus. Mit den beklemmenden Lebensverhältnissen stieg unter anderem die Zahl der Tuberkulosefälle bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. 1911 kam es aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten sogar zu Unruhen.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftspolitik im 20. Jahrhundert, Wien 1994
Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995