Filmische Leerstelle 2: Religiöse Vielfalt
Die k. u. k. Monarchie war von religiöser Vielfalt geprägt. Katholiken, Protestanten, orthodoxe Christen, Juden und Muslime zählten zu den kaiserlichen „Untertanen“. Doch bis auf die katholische Kirche blieben nahezu alle religiösen Gruppierungen vom filmischen Bilderkanon Österreich-Ungarns ausgespart.
Die katholische Kirche war als grundlegende Stütze eng mit dem Hause Habsburg verbunden. Trotz einiger antiklerikaler Gesetze in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet der religionskritische Liberalismus ins Hintertreffen. Thron und Glaube bildeten eine Einheit. Der Kaiser symbolisierte durch seine Anwesenheit bei Fronleichnamsprozessionen oder durch sein Protektorat für den „Internationalen Eucharistischen Kongress in Wien“ im Jahr 1912 das staatstragende Bündnis. Untermauert wurde es außerdem durch die konfessionellen Verhältnisse: Österreich war ein katholisches Land. 1910 lebten in der westlichen Reichshälfte der Donaumonarchie 79 Prozent Katholiken. In den Alpenregionen lag der Anteil noch weit höher.
Während die katholische Liturgie Eingang in das filmische Erbe fand, blieben andere religiöse Gruppen der Monarchie aus dem Bilderkanon nahezu gänzlich ausgespart. So verhält es sich sowohl bei den protestantischen Minderheiten unter den Ungarn und Slowaken wie auch bei den orthodoxen Christen, Juden und Muslimen in den Grenzgebieten, in Galizien, Siebenbürgen, Bosnien und der Herzegowina. Selten finden sich Aufnahmen, wie der offiziöse Prestigestreifen „Kaiser Franz Josef in Sarajewo. Die Reise durch Bosnien und Herzegowina“ (A 1910), die auf den konfessionellen Pluralismus des Habsburgerreiches verweisen: Hier huldigen Kindergruppen christlicher und muslimischer Konfession dem betagten Monarchen.
Angehörige des mosaischen Glaubensbekenntnisses stellten, obwohl sie nur drei Prozent der Bevölkerung auf dem späteren Gebiet der österreichischen Republik ausmachten, insbesondere in den Metropolen eine bedeutende Gruppe im Wirtschafts- und Geistesleben dar. Die Integration des Judentums seit den Reformen Josephs II. wurde zu einem wichtigen Faktor einer innovativen Kultur. Seitens der Bevölkerungsmehrheit reagierte man darauf mit Vorurteilen und Ressentiments, die sich aus traditionellen Glaubensvorstellungen, Modernisierungsängsten, biologisch-rassistischen Ansichten und Ideen des Ethnonationalismus nährten. Der wachsende, hauptsächlich von christlichsozialen und deutschnationalen Vereinigungen getragene Antisemitismus richtete sich nicht zuletzt auch gegen jene jüdischen Gruppierungen, die als „Kleinhändler“ und Vertreter einer strengeren Glaubensauslegung stereotypen Feindbildern entsprachen. Galizische „Ostjuden“ dienten auf diese Weise speziell nach 1914 als Sündenböcke. Vor allem ihnen lastete man ungerechtfertigterweise die katastrophalen Folgen des Ersten Weltkriegs an. Das Beispiel aus dem Film „Typen und Szenen aus dem Wiener Volksleben“ (A 1911) ist ein früher Beleg für den Antisemitismus: Ein jüdischer Händler wird in verächtlicher Weise vom Tisch gewiesen.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftspolitik im 20. Jahrhundert, Wien 1994
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena/Moser, Karin: Österreich Box 1: 1896-1918. Das Ende der Donaumonarchie, Wien 2010