„... und dann werde Fritz Adler die Sowjetrepublik Oesterreich ausrufen. Das Beschämende an der Sache war nicht so sehr die Kindlichkeit des Arrangements als die Namen, die mit ihr in Zusammenhang gebracht wurden: Rothziegel, Frey, Weihrauch, Ganser, Kisch, Waller usw., lauter Juden.“ (aus dem Tagebuch von Oberpolizeirat Franz Brandl)

Artikel 1

Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.

Artikel 2

Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.

 

Skalnik, Kurt: Auf der Suche nach der Identität, in: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, 11-24, hier 11

Artikel 1 und 2 der neuen Verfassung von Deutschösterreich

Am 30. Oktober wurde die erste, noch provisorische Regierung der Ersten Republik mit dem sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner eingesetzt. Sie trat zuerst im Niederösterreichischen Landtag und ab dem 12. November im Parlament an der Ringstraße zusammen.

Die neue Verfassung legte bereits den Anschluss an Deutschland fest, was als Widerspruch zu Artikel 1 gedeutet werden könnte, da man bei der Frage der Staatsbildung – Souveränität Österreichs oder Anschluss – auch das Volk befragen hätte können.

Nach einem Aufruf der Sozialdemokraten versammelte sich am Nachmittag anlässlich der Proklamation der Republik Deutschösterreich, die der Präsident des Staatsrates, der Großdeutsche Franz Dinghofer in Begleitung des Sozialdemokraten Karl Seitz von der Parlamentsrampe aus vornahm, rund um das Parlamentsgebäude eine Menschenmenge.

Angehörige der Roten Garde – Mitglieder der am 3. November gegründeten Kommunistischen Partei Deutschösterreichs – versuchten während der Proklamation das Parlament zu stürmen. Diversen Berichten zufolge rissen sie aus einer rot-weiß-roten Fahne den weißen Mittelstreifen heraus und versuchten eine rein rote Fahne zu hissen. Die nachfolgenden Ereignisse schilderte der damalige Polizeioberrat und spätere Polizeipräsident Brandl so:

„Da wird von der Straße gegen das Gebäude geschossen. Eine Kugel trifft den sozialdemokratischen Chef des Pressedepartements der Staatskanzlei, Dr. Brügel, in ein Auge, das verloren geht, dreißig andere Personen, darunter zwei Volkswehrleute werden mehr oder weniger schwer verletzt, andere Schüsse treffen die marmornen Götter des Frieses. Und plötzlich steht die Rote Garde, vierhundert Mann, auf der Rampe, und es hebt ein allgemeines Streiten an: Frey, Kisch, Waller, schreien aufeinander los, im Gebäude debattieren Seitz, Deutsch und Rothziegel über die Schuldfrage. ‚Aus dem Parlament ist zuerst auf uns geschossen worden’, sagt Rothziegel, ‚sogar mit einem Maschinengewehr.’ ‚Aber das war doch ein Rollbalken, der herabgelassen wurde, der hat einen solchen Lärm gemacht.’ ‚Es waren Schüsse.’ ‚Nein, ein Rollbalken.’ Schließlich lässt der Genosse den Rollbalken als Entschuldigung gelten.
 Und dann gehen sie alle nach Hause. ‚Unsere Stunde ist noch nicht gekommen’, sagen die Kommunisten.“

Auch die zeitgleiche Besetzung der Redaktionsräume der Neuen Freien Presse durch Rotgardisten scheiterte. Es gelang lediglich, ein Flugblatt zu drucken, in dem von der erfolgreichen Ausrufung der „sozialen Republik“ die Rede gewesen sein soll, wie es der damalige Polizeipräsident Johann Schober schilderte.

An diesem fehlgeschlagenen Versuch der kommunistischen Partei, in Österreich eine Räterepublik zu errichten, wie es in Deutschland zumindest teilweise gelungen war, nahmen damals neben Egon Erwin Kisch auch eine Reihe prominenter Literaten und Intellektueller teil. Darunter war neben Albert Paris Gütersloh, Albert Ehrenstein auch Franz Werfel, der später als enttäuschter Sozialist politisch zum konservativen Katholizismus „konvertierte“. Werfel hatte einige Tage vor dem 12. November in einer Protestkundgebung der Roten Garde vor der Zentrale des Wiener Bankvereins eine flammende Ansprache gehalten, in der er ausführte, dass die revolutionären Kräfte zur Zeit noch zu schwach wären, um den Sturm auf die Bank zu wagen. Aber diese Stunde würde schlagen und „dann werden wir auch diese Geldpaläste besitzen“.

Als ein Resultat des 12. November blieb der Vorwurf, dass die gerade neu gegründete kommunistische Partei einen ersten Putschversuch in der neuen Republik durchgeführt hätte.

Bibliografie 

Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (= Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram), Wien 2005

Neck, Rudolf: Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Wien 1968

Pfoser, Alfred: Was nun? Was tun? Zehn Blitzlichter zur literarischen Szene der Jahre 1918 bis 1920, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang: Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich, Bd. I, Wien 2008, 173-196

Stadler, Karl R.: Die Gründung der Republik, in: Skalnik, Kurt: Auf der Suche nach der Identität, in: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, 55-84

 

Zitate:

„... und dann werde Fritz Adler ...": zitiert nach: Neck, Rudolf: Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Wien 1968, 135

„Da wird von der Straße ...": zitiert nach: Neck, Rudolf: Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Wien 1968, 136

„dann werden wir auch ...": zitiert nach: Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt 1987, 109

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.