„Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt.“ Die Sozialdemokratie und der Jännerstreik

Die Rolle der Sozialdemokratie während der Streiktage unter ihrem Parteivorsitzenden Victor Adler ist bis heute Gegenstand von Kontroversen. Wäre damals die Entscheidung für einen Umsturz gefallen, so wäre dieser nach Meinung von radikalen Linken im Jänner 1918 möglich gewesen.

Otto Bauer verteidigte in seiner Schrift Die österreichische Revolution (1923) die „realpolitische“ Zurückhaltung der sozialdemokratischen Parteiführung im Jännerstreik 1918. Der Parteivorstand wollte sich vom revolutionären Kern der Streikbewegung nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen lassen. „Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt. Die Steigerung zur Revolution konnten wir nicht wollen. Darum mußten wir dafür sorgen, dass der Streik beendet werde“.

Otto Bauer sprach rückblickend von einer nüchternen Einschätzung der damaligen Streikbewegung, deren reale Erfolgsaussichten durch eine mangelnde Unterstützung der tschechischen Arbeiterschaft gering gewesen wären. „Nichts war uns während des Jännerstreiks ein wichtigeres Symptom als die Haltung der tschechischen Arbeiterschaft. Nur Brünn, wo die den Wiener Gewerkschaften angeschlossenen Zentralisten die Führung hatten, wurde von dem Streik erfaßt. Das ganze große tschechische Gebiet, in dem die tschechoslawische Sozialdemokratie führte, blieb ruhig.“ Zudem hätte ein Umsturz die sofortige Invasion der deutschen Truppen zur Folge gehabt: „Deutsche Armeen hätten Österreich besetzt, wie sie kurze Zeit später unvergleichlich größere Gebiete in Rußland und der Ukraine besetzt haben (...) Österreich wäre zum Kriegsschauplatz geworden.

Einerseits wurde die Parteispitze um Victor Adler für ihre „kluge Vorgangsweise“ gelobt, da sie die Streikbewegung unter Kontrolle gebracht hatte, indem die Arbeiterräte in die Parteiorganisation integriert und im zentralen Arbeiterrat eine Mehrheit für den Streikabbruch erreicht wurden. Andererseits war von einer „Burgfriedenspolitik“ und vom (mutwilligen) Versagen der Parteiführung die Rede, die unvorbereitet die revolutionäre Stimmung der Arbeitermassen nicht genützt habe oder auch nicht nützen wollte. Egon Erwin Kisch merkte dazu im Dezember 1918 an: „Was nützt unter solcher Führerschaft die Gesinnung der Massen? Was nützt dem Ringkämpfer seine Körperkraft, wenn seine Arme gelähmt sind?” Ein Bericht der Polizeidirektion Wien über den niederösterreichischen Landesparteitag der Sozialdemokraten im Februar 1918 spricht von heftigen Vorwürfen an die Parteiführung, demnach der Wiener Arbeiterrat nicht dazu „angetan sei, Streiks zu leiten, sondern ‚zu erwürgen’“. Und viele Redner hätten beklagt, dass sich der Parteivorstand nicht für die Freilassung des in Haft sitzenden Fritz Adler und der anderen nach dem Streik Verhafteten eingesetzt hätte. Victor Adler soll lapidar geantwortet haben, dass es ihm gegen den Strich ginge, „wegen seines Sohnes einige sensationslüsterne Weiber aufzuhetzen“.

Faktum ist, dass die Jänner-Ereignisse das Kriegsgeschehen, die weitere Entwicklung der Monarchie und den Beginn der Republik massiv beeinflussten: Sie setzten den Beginn einer österreichischen Rätebewegung und bedeuteten den Auftakt zu einer inneren Destabilisierung des Staates. Es folgten Meutereien in der Marine, welche die Demobilisierung der Truppen bis zum Oktober/November antrieben, dazu kamen weitere Streikwellen in Niederösterreich und Wien. Die Sozialdemokratie war plötzlich in einer ungleich stärkeren Verhandlungsposition als zuvor. Tief enttäuschte Linksradikale beschlossen mit der Sozialdemokratie zu brechen und gründeten im November die kommunistische Partei.

Bibliografie 

Bauer, Otto: Die Österreichische Revolution, Wien 1923

Hautmann, Hans: Jänner 1918 – Österreichs Arbeiterschaft in Aufruhr. Unter: http://www.klahrgesellschaft.at/Referate/Hautmann_Jaennerstreik.html (20.6.2014)

Maderthaner, Wolfgang: Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang: Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich, Bd. I, Wien 2008, 187-206

Stadler, Karl R.: Die Gründung der Republik, in: Skalnik, Kurt: Auf der Suche nach der Identität, in: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt: Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, 55-84

 

Zitate:

„Wir hatten den Streik ...", „Nichts war uns während des Jännerstreiks ...", „Deutsche Armeen hätten Österreich besetzt ...": Bauer, Otto: Die Österreichische Revolution, Wien 1923. Unter: http://archive.org/stream/diesterreichis00baueuoft/diesterreichis00baueu... (20.6.2014)

„Was nützt unter solcher Führerschaft ...": Der freie Arbeiter, 7.12.1918, 37

„angetan sei, Streiks zu leiten ...", „wegen seines Sohnes einige sensationslüsterne ...": zitiert nach: Neck, Rudolf: Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. Wien 1968, 26f.

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Person

    Otto Bauer

    Otto Bauer war ein sozialdemokratische Politiker und ab November 1918 der erste Außenminister (Staatssekretär des Äußeren) der Ersten Republik. Bauer trat aufgrund der gescheiterten Anschlussbestrebungen an Deutschland im Juli 1919 von seinem Amt zurück.

Entwicklungen