Wie die Ereignisse vor der und rund um die Republikgründung zu bewerten sind und ob es sich hier um eine Österreichische Revolution handelte, wie dies Otto Bauer 1923 meinte, darüber sind sich HistorikerInnen bis heute uneinig.

In der „Revolution“ 1918/19 kam nach Otto Bauer ein dreifacher revolutionärer Prozess zum Ausdruck: Erstens entstanden durch nationale Revolutionen im Raum der Donaumonarchie neue Staaten. Dabei sollte idealerweise in Deutschösterreich das gesamte Deutschtum der Monarchie durch einen Anschluss an Deutschland gerettet bzw. in einem neuen größeren Maßstab und Territorium weiterentwickelt werden. Darin sei eine Alternative zum unrealistisch gewordenen Staatenbund von Österreich-Ungarn zu sehen.

Zweites musste nach Bauer die Revolution demokratisch legitimiert sein. Jede Nation schuf sich ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Dies war verbunden mit einer  Erweiterung der politischen Partizipation, der Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts auf die Frauen und die Länder- und Gemeindeebene.

Die dritte, laut Bauer, entscheidende Dimension der Österreichischen Revolution war im sozialen Umbruch zu verorten: Durch das Modell der „industriellen Demokratie“ (wie der Einführung von Betriebsräten, etc.) und einer intensiven Sozialpolitik wurden die Lebenschancen der breiten Masse der Bevölkerung entscheidend verbessert.

Historiker wie Wolfgang Maderthaner und Ernst Hanisch betonen im Umbruch der Periode 1918–1920 vor allem das Moment der politischen Revolution, der Schaffung einer neuen Staatsbürgergesellschaft durch den Prozess einer weitreichenden De-Feudalisierung, der Ausweitung der politischen Mitbestimmungsrechte und einer Parlamentarisierung des politischen Systems.

Explizit linksgerichtete Historiker wie Hans Hautmann argumentieren, dass die Thesen von Otto Bauer Ausdruck der Tendenz der Sozialdemokratie zur „Revolutions-Rhetorik“ gewesen seien. Der Umbruch im Spätherbst 1918 habe zwar tiefgreifende Veränderungen in den politischen Teilnahmemöglichkeiten der Bevölkerung und einschneidende Maßnahmen in der Sozialgesetzgebung zugunsten sozial Benachteiligter gebracht, in der Bürokratie, in der Justiz, der Polizei sei das k. u. k. Beamtentum im Wesentlichen weiter dominant geblieben. „Es wechselten nur die Amtswappen und die Portraits des Staatsoberhauptes in den Amtszimmern“. Vor allem im Wirtschaftssystem habe keine Revolution stattgefunden, da die Politik der Sozialdemokratie durch eine „Gängelung“ der radikalen Rätebewegung jegliche  grundlegende Veränderung des kapitalistischen Wirtschaftssystems verhindert habe.

Bibliografie 

Bauer, Otto: Die Österreichische Revolution, Wien 1923

Hanisch, Ernst: Der große Illusionist Otto Bauer (1891–1938), Wien/Köln/Weimar 2011

Hautmann, Hans: Der November 1918 – eine Revolution?, in: Ackerl, Isabella/Neck, Rudolf (Hrsg.): Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Protokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978, Wien 1978, 159-167

Leidinger, Hannes: „... von vornherein provisorischer Natur“: Rätebewegung und Kommunismus in Österreich 1918–1924, in: Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hrsg.): Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 91–99

Maderthaner, Wolfgang: Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang: Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich, Bd. I, Wien 2008, 187-206

 

Zitate:

„Es wechselten nur die Amtswappen ...": Hautmann: Hautmann, Hans: Der November 1918 – eine Revolution?, in: Ackerl, Isabella/Neck, Rudolf (Hrsg.): Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Protokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978, Wien 1978, 159-167, hier 164

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Revolutionäre Bewegungen, Streikbewegungen

    Die Umstellung der Produktionsstätten auf Kriegswirtschaft und der Einsatz der Männer an der Front bedingte, dass zunehmend Frauen in zuvor typischen Männerberufen, wie beispielsweise in Betrieben der Rüstungsindustrie, beschäftigt wurden. Frauen mussten auch die Versorgung ihrer Familien übernehmen und reagierten daher auch als Erste mit Protestaktionen auf die zunehmend prekäre Ernährungslage und auf extrem schlechte Arbeitsbedingungen in den Betrieben.

  • Person

    Otto Bauer

    Otto Bauer war ein sozialdemokratische Politiker und ab November 1918 der erste Außenminister (Staatssekretär des Äußeren) der Ersten Republik. Bauer trat aufgrund der gescheiterten Anschlussbestrebungen an Deutschland im Juli 1919 von seinem Amt zurück.

Entwicklungen