Mit Ausbruch des Krieges kam es sowohl innerhalb der Armee als auch in der Zivilbevölkerung zu einem beträchtlichen Anstieg vor- bzw. außerehelicher Sexualkontakte. Das Militär befürchtete eine rasche Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, weshalb das Sexualverhalten der Soldaten ins Zentrum militärischen Interesses rückte.
Im Vordergrund standen weniger moralische Fragen als gesundheitspolitische Überlegungen. Um die Kampfkraft der Armee zu sichern, sollte ein Ansteigen von venerischen Infektionen verhindert werden. Während man die (Krieger-)Frauen in der Heimat zu sexueller Treue und Enthaltsamkeit aufrief, um die Stimmung an der Front nicht zu gefährden, wurde die sexuelle Freizügigkeit der Männer weitgehend akzeptiert. Hinsichtlich des Sexualverhaltens der Soldaten verfolgte das Militär meist einen relativ pragmatischen Ansatz. Dabei wählten die am Krieg beteiligten Armeen recht unterschiedliche Wege, um der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten entgegenzuwirken.
In der Frage nach den Auswirkungen sexueller Abstinenz auf die Gesundheit der Betroffenen, gingen die Meinungen der Mediziner stark auseinander. Die Befriedigung des Sexualtriebes, so argumentierte die eine Seite der Ärzteschaft, würde eine wesentliche Bedingung für die Gesundheit des Menschen darstellen. Ihre Gegner gingen hingegen davon aus, dass sexuelle Enthaltsamkeit keine gesundheitlichen Schäden nach sich ziehen und ein ideales Mittel zur Eindämmung von Geschlechtskrankheiten darstellen würde.
Innerhalb der Armeen wurden oftmals recht unterschiedliche Ansätze zur Lösung des sexualmoralischen und gesundheitspolitischen Problems verfolgt. Manche Offiziere riefen zur Enthaltsamkeit auf und kämpften um die Erhaltung der sexuellen Moral, während andere aktiv darum bemüht waren, heterosexuelle Kontaktmöglichkeiten für Soldaten zu schaffen.
Das preußische Kriegsministerium unterschied zwischen jungen, ledigen Soldaten und älteren, bereits verheirateten Männern. Es ging davon aus, dass sexuelle Enthaltsamkeit nur von jüngeren, unverheirateten Soldaten verlangt werden könne, nicht jedoch von Männern, die an regelmäßige Sexualkontakte innerhalb der Ehe gewöhnt seien. Britische und amerikanische Offiziere wandten sich beispielsweise gegen ein Prostitutionsverbot, um als viel gravierender erachtete moralische ‚Ausschweifungen’ wie Masturbation oder Homosexualität zu verhindern. Wie man in den Feldakten des Kommandos der Südwestfront der österreichisch-ungarischen Armee lesen konnte, wurde die männliche Sexualität als ein naturgegebener Trieb angesehen:
„Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Nervenanspannung und physische Beanspruchung des Mannes in der Front in einem gewissen Zusammenhang mit dem gesteigerten sexuellen Bedürfnis steht und dass der Macht dieses elementaren Triebes gegenüber die Hemmungen sittlich-religiöser Art vielfach versagen.“
Einerseits wollte man den sexuellen Bedürfnissen der Soldaten entgegenkommen, andererseits eine Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verhindern. Die Maßnahmen gegen venerische Infektionen waren breit gestreut und umfassten Zwangsuntersuchungen, die Anzeigepflicht bei Geschlechtskrankheiten, aber auch Aufrufe zur Enthaltsamkeit, die Regulierung der Prostitution und die Ausgabe von Schutzmitteln.
Biwald, Brigitte: Von Helden und Krüppeln. Das österreichisch-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg. Teil 2, Wien 2002
Hirschfeld, Magnus/Gaspar, Andreas: Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, 2. Auflage, Hanau am Main 1966
Sauerteig, Lutz: Militär, Medizin und Moral: Sexualität im Ersten Weltkrieg, in: Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph (Hrsg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, Herbolzheim 2003, 197-226
Überegger, Oswald: Krieg als sexuelle Zäsur? Sexualmoral und Geschlechterstereotypen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Kulturgeschichtliche Annäherungen, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 351-366
Zitate:
„Die Erfahrung hat gelehrt …“: Feldakten des Kommandos der Südwestfront, Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Neue Feldakten, Kommando der Südwestfront (I), 1916, Res. Nr. 1783-159/4, zitiert nach: Überegger, Oswald: Krieg als sexuelle Zäsur? Sexualmoral und Geschlechterstereotypen im kriegsgesellschaftlichen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Kulturgeschichtliche Annäherungen, in: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, Innsbruck 2006, 353
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Kapitel
- Trennung der Ehepaare und sexuelle Mobilität im Ersten Weltkrieg
- Geburtenrückgang während des Ersten Weltkriegs
- „Die Mobilisierung der Wiegen“
- Zwischen staatlicher Kontrolle und gesellschaftlicher Ächtung
- Zwischen Enthaltsamkeit und Bedürfnisbefriedigung
- Geschlechtskrankheiten und deren Bekämpfung in der k. u. k. Armee
- „Am Anfang widerstehe“
- Zur sexuellen Entspannung der Soldaten
- Zwischen Vorbeugung und Strafandrohung
- Sexuelle Gewalt im Ersten Weltkrieg
- Sexuelle Gewalt als Gegenstand der alliierten Kriegspropaganda