Der Ruf nach Autonomie

Das Böhmische Staatsrecht und die Rolle Böhmens im österreichischen Gesamtstaat

Nach der Niederschlagung der Revolution 1848 herrschte zunächst politische Eiszeit. Die Forderungen der Bürger konnten jedoch nicht auf Dauer ignoriert werden. Auch im gerade entstehenden tschechischen Bürgertum hatte das national-liberale Gedankengut starke Wurzeln geschlagen.

Aufgrund der außen- und innenpolitischen Schwäche seines neoabsolutistischen Regimes war Kaiser Franz Joseph gezwungen, den Forderungen nach Mitbestimmung entgegenzukommen. Als gemäß den Bestimmungen des Februarpatents 1861 der Reichsrat wieder einberufen wurde, der von Abgeordneten der jeweiligen Landtage beschickt werden sollte, war eine der Hauptforderungen der bürgerlichen Kräfte erfüllt. Die tschechischen Vertreter der böhmischen Länder sahen sich jedoch benachteiligt, denn die Wahl der Abgeordneten zum Landtag erfolgte auf Grundlage des Zensuswahlrechts, das die politischen Mitspracherechte an die Steuerleistung koppelte und dadurch den Deutschen, welche die ökonomische Elite im Land stellten, eine unverhältnismäßig stärkere Vertretung im böhmischen Landtag garantierte, als es ihrer tatsächlichen Zahl entsprach.

Das Gefühl der Benachteiligung bestimmte auch die Teilnahme der Tschechen an der gesamtstaatlichen Entwicklung. Die politischen Vertreter der jungen tschechischen Nation sandten ihre Abgeordnete unter Vorbehalten nach Wien in den sich nun konstituierenden Reichsrat, den sie als Instrument eines deutsch-dominierten Zentralismus empfanden.

Im Sinne des Austroslawismus favorisierten die Tschechen eine föderalistische Nationalitätenpolitik. Die Diskussion um ihre Stellung innerhalb der Monarchie erfolgte unter dem Schlagwort des Böhmischen Staatsrechts. Darunter verstand man die staatsrechtliche Sonderstellung der historischen böhmischen Länder (Böhmen, Mähren und Schlesien), die seit dem Mittelalter eine Einheit mit eigenständiger Rechtstradition und Verwaltung gebildet hatten, welche jedoch im Zuge der zentralistischen Reformen unter Maria Theresia aufgehoben worden war. Die böhmischen Länder waren seither als individuelle Provinzen administrativ mit den österreichischen Erbländern vereinigt. Das Böhmische Staatsrecht wurde nun zur Doktrin der tschechischen Politik, die eine Wiedererlangung des autonomen Status der Länder im Rahmen der Monarchie erkämpfen wollte.

Diese Forderungen wurden jedoch enttäuscht: Denn die wichtigste Änderung, die der Konstitutionalismus mit sich brachte, nämlich die völlige Reorganisation der Monarchie durch den 1867 erfolgten Österreichisch-Ungarischen Ausgleich, war eine Ohrfeige für die tschechische Nationsbewegung – die Tschechen, die ähnliche autonomistische Forderungen wie die Ungarn gestellt hatten, sahen sich wiederum benachteiligt. Die Folge war eine radikale Änderung der Haltung der führenden Vertreter der Tschechen zum österreichischen Gesamtstaat, der nun zunehmend als Hindernis für die nationale Entfaltung gesehen wurde. 

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Kořalka, Jiří/Crampton, Richard J.: Die Tschechen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 489–521

Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.