Die Revolution von 1848 erfasste ganz Zentraleuropa. Nicht nur für das deutsche Nationalbewusstsein bedeuteten die damaligen Ereignisse eine Weichenstellung, auch für die junge tschechische Nationalbewegung war 1848 ein wichtiger Meilenstein für die Artikulierung nationaler Forderungen.
Als die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main auch Vertreter Böhmens, das ja seit dem Mittelalter Teil des Heiligen Römischen Reiches gewesen war, zur Teilnahme einlud, lehnte der Führer der tschechischen Nationalbewegung, František Palacký (1798–1876), in seinem berühmten Brief dieses Angebot im Namen der tschechischen Nation ab und verkündete den „Austritt der böhmischen (= tschechischen) Nation aus der deutschen Geschichte“.
In diesem Brief finden sich auch folgende oft zitierte Zeilen: „Wahrlich! Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europa’s, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.“ Es war dies ein Bekenntnis zur multiethnischen, slawisch dominierten Habsburgermonarchie und die Geburtsstunde des politischen Austroslawismus. Daraus sprach die Erkenntnis, dass die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas nur im Rahmen der Habsburgermonarchie Schutz vor einer pangermanisch-deutschen oder panslawisch-russischen Vereinnahmung finden würden.
Weitere durch Palacký formulierte Forderung der Tschechen waren der Austritt Böhmens aus dem Deutschen Bund sowie die administrative Selbstständigkeit und nationale Gleichberechtigung der tschechischen Sprachgruppe in allen Bereichen des öffentlichen Lebens innerhalb Böhmens.
Die Vertreter der deutsch-böhmischen Seite forderten wiederum die Auflösung der historischen Grenzen und die Abtrennung der deutschsprachigen Gebiete Böhmens mit der Intention eines Anschlusses an deutsche Territorien.
Beide Volksgruppen befanden sich nun am Scheideweg: Die Deutschböhmen sandten ihre Abgeordneten nach Frankfurt und bekannten sich zur Einheit Österreichs und Deutschlands. Auch traten die deutschen Vertreter aus dem Prager Nationalausschuss [Národní výbor] aus, der damit zu einer rein tschechischen Volksvertretung wurde.
Die Tschechen antworteten mit einem dezidiert slawischen Gegenprogramm. Prag wurde Austragungsort des Slawenkongresses, zu dem Gesandte aus allen slawischen Völkern Europas eingeladen wurden. Diese Versammlung wurde später im Zuge der Niederschlagung des Pfingstaufstandes 1848 von der österreichischen Armee aufgelöst.
Das Resultat der revolutionären Ereignisse von 1848 war für die zukünftige Koexistenz der beiden Sprachgruppen in den Böhmischen Ländern nicht gerade zuträglich – denn nun war der Konflikt um die Vorherrschaft ausgebrochen. Die Trennung nach sprachlichen Kriterien setzte sich auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens fort, was zur Bildung zweier getrennter Nationalgesellschaften in den böhmischen Ländern führte.
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987
Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991
Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch