Zahlen und Dimensionen der Kriegsgefangenenproblematik
Millionen gerieten während des Ersten Weltkriegs in Gewahrsam der gegnerischen Armeen. Aber keine Großmacht verlor so viele Soldaten durch Gefangenschaft wie die Donaumonarchie.
Die „Bilanzbuchhalter“ des vierjährigen Massenschlachtens warteten mit aufsehenerregenden Zahlen auf: Russland hatte bis 1918 16 Millionen Mann zu den Waffen gerufen, Deutschland 13, Großbritannien 9 und Frankreich 8,5 Millionen. In Österreich-Ungarn betrug die Zahl der Mobilisierten 9 Millionen, in Italien 5,5, in den USA 4,7 und im Osmanischen Reich 3 Millionen Mann. Alles in allem gerieten davon fast 9 Millionen in Gewahrsam der „Feindstaaten“, wobei die Mehrzahl der Kriegsgefangenen – bis 1917 rund 5 Millionen – am „östlichen Kampfschauplatz“ zu verzeichnen war.
Zumindest teilweise erfolgreiche Offensiven mit Umfassungsmanövern und Terraingewinnen hatten auf lange Sicht die Kämpfe zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer charakterisiert. Die Folgen waren schon während der Eröffnungsfeldzüge absehbar. Bereits im September 1914 verloren etwa die k. u. k. Truppen von den 800.000 Mann, mit denen die Operationen am nordöstlichen Kriegsschauplatz begonnen worden waren, allein zirka 100.000 durch Gefangenschaft. Beim Fall der Festung Przemyśl am 23. März 1915 musste sich ein noch größerer Verband des Habsburgerheeres den russischen Belagerern ergeben, nämlich neun Generäle, knapp 2.600 Offiziere und 117.000 Mannschaftsangehörige. Umgekehrt erging es der Zarenarmee gegen die Deutschen nicht viel besser: Nur in der sogenannten „Schlacht von Tannenberg“ Ende August 1914 kapitulierten 100.000 Soldaten des Romanowimperiums. Während der Eroberung weiter polnischer Gebiete durch die Mittelmächte stieg die Zahl der russischen Kriegsgefangenen. Allein im August 1915 brachten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen an die 325.000 Angehörige der zarischen Streitkräfte in ihre Gewalt.
Schätzungen zufolge verloren die russischen Truppenverbände alles in allem ungefähr 1 Million Mann an die Donaumonarchie und 1,4 Millionen an das Hohenzollernreich, während umgekehrt rund 160.000 deutsche und mehr als 2 Millionen k. u. k. Heeresangehörige in russische Lager kamen. Die Dimension der Kriegsgefangenenproblematik im „Osten“ tritt noch einmal deutlich hervor, wenn man bedenkt, dass sich im Gewahrsam der Mittelmächte insgesamt an die 600.000 italienische Gefangene, in Frankreich von Ende 1916 bis November 1918 durchschnittlich rund 425.000 bis 480.000 Angehörige der Hohenzollern- und der Habsburgertruppen sowie im Deutschen Reich Mitte Oktober 1918 etwa 535.000 französische und 185.000 britische Soldaten befanden.
Gemessen an der Gesamtstärke der jeweiligen Armeen befand sich unter solchen Bedingungen jeder dreizehnte Reichsdeutsche, jeder zehnte Franzose oder Italiener, mindestens jeder fünfte Kombattant der zarischen und fast jeder Dritte der habsburgischen Streitkräfte in feindlichem Gewahrsam.
Leidinger, Hannes/Moritz, Verena: Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien/Köln/Weimar 2003
Moritz, Verena/Leidinger, Hannes: Zwischen Nutzen und Bedrohung. Die russischen Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn (1914–1921), Bonn 2005
Oltmer, Jochen (Hrsg.): Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn/München/Wien 2006
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Kapitel
- Zahlen und Dimensionen der Kriegsgefangenenproblematik
- Gefangennahme
- Die Situation der Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn
- Humanitäre Katastrophen in der Gefangenschaft
- Hilfsmaßnahmen für Kriegsgefangene
- Nationale Propaganda unter Kriegsgefangenen
- Das Verhältnis der Kriegsgefangenen zur Zivilbevölkerung
- Die Bedeutung der Gefangenenarbeit
- Zeugen und Akteure der Revolution
- „Rücktransport“ aus der Gefangenschaft
- Schwierige Heimkehr