Dabei sein ist alles? Österreich und der Prozess der deutschen Einigung

Im 19. Jahrhundert stellte sich die Frage der nationalen Einigung der Deutschen. Eine Umwandlung des Deutschen Bundes zu einem Bundesstaat und in der Folge zu einem deutschen Nationalstaat war in den Augen vieler Deutscher der logische Weg. Nur die Frage der Rolle, welche die Habsburgermonarchie dabei spielen sollte, stellte ein großes Problem dar.

Eine Beteiligung Österreichs am Einigungsprozess führte die Habsburgermonarchie nicht nur automatisch in eine gefährliche Konkurrenzsituation mit Preußen, das ebenfalls die führende Rolle beanspruchte. Noch weiterreichende Auswirkungen hatte die Verwirklichung der deutschen Einheit auf die innere Stabilität der Monarchie.

Es boten sich zwei Szenarien an, die beide für die Monarchie der Habsburger existenzbedrohend waren: Einerseits die sogenannte „kleindeutsche Lösung“, unter der man eine Einigung Deutschlands unter Ausschluss Österreichs verstand. In Wien begegnete man dem mit der berechtigten Sorge, dass die Deutschen innerhalb der Habsburgermonarchie separatistische Tendenzen entwickeln würden – eine Entwicklung, die für die Habsburgermonarchie eine große Belastung darstellen würde.

Das zweite Szenario war die „großdeutsche Lösung“, bei der Österreich miteinbezogen würde. Hier stellte sich das Problem der multiethnischen Zusammensetzung der Habsburgermonarchie. Denn nur Teile der österreichischen Monarchie, nämlich die überwiegend deutschsprachigen Alpen- und Donauländer sowie die böhmischen Länder, die ja auch vor 1806 Teile des Heiligen Römischen Reiches gewesen waren, hätte dies betroffen. Die übrigen Gebiete mit anderssprachigen Mehrheiten wären davon ausgeschlossen geblieben, was zur Folge gehabt hätte, dass die Habsburgermonarchie als territoriale Einheit zerbrochen wäre.

Deshalb entschied man sich in Wien für einen Kompromiss: Es galt, die Verbindung zwischen den deutschen Staaten und der Habsburgermonarchie in der Schwebe zu halten.

Doch der Zeitgeist arbeitete gegen die Habsburger, denn die deutschen Einigungsbestrebungen wurden von einer stetig wachsenden Öffentlichkeit getragen. Auch in Österreich begrüßten nicht nur die Deutschnationalen, sondern auch die radikalen Demokraten die großdeutsche Lösung. Das Aufbrechen feudaler Fesseln und dynastischer Bevormundung war ja immerhin eines der Hauptanliegen der nationalen Emanzipationsideologie, deren langfristiges Ziel ein völliges Aufgehen in Deutschland darstellte – wohl bewusst, dass dies das Ende der Habsburgermonarchie bedeuten würde.

Nach 1848 gab Wien seine politischen Bestrebungen um die deutsche Vormachtstellung de facto auf. Außenpolitisch begann mit der Regentschaft von Kaiser Franz Joseph eine Periode der Schwäche. Innenpolitisch rückte man nun endgültig von einer Umgestaltung der Monarchie in einen deutschen Staat ab. Durch die Bestätigung des Grundsatzes der „Gleichberechtigung der Volksstämme“ – was einem Bekenntnis zum Vielvölkerreich gleichkam – wurden die Deutschen nunmehr eine von mehreren Nationalitäten in der Habsburgermonarchie.

Die Entscheidung brachte schließlich die Krise in den preußisch-österreichischen Beziehungen, die 1866 in der Niederlage Österreichs in der Schlacht von Königgrätz gipfelte. Österreich unterlag nun in der Konkurrenz um die Vormachtstellung im deutschsprachigen Raum endgültig dem unter Bismarcks Führung stehenden Preußen. Nun war der Weg frei für die kleindeutsche Lösung, die 1871 in der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles ihren Abschluss fand.

Bibliografie 

Doering-Manteuffel, Anselm: Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815 bis 1871 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 15), München 1993

Kann, Robert A.: Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1304–1338

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Sutter, Berthold: Die Deutschen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 154–339

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.