Russlands „innere Feinde“. Jüdische und deutsche Minderheiten an der Ostfront
Während des Ersten Weltkriegs richtete sich die internationale Aufmerksamkeit und propagandistische Empörung – schon aufgrund des völkerrechtswidrigen Einmarsches in Belgien – auf die deutschen Kriegsverbrechen an der Westfront. Dies führte dazu, dass die Verbrechen an anderen Kriegsschauplätzen meist wenig Beachtung fanden, obwohl deren Ausmaß an der Ost- und Südfront das der Westfront weit übertraf.
Der Krieg im Osten hatte einen völlig anderen Charakter als jener im Westen. Während sich die Westfront nach der deutschen Invasion in Belgien und Nordfrankreich bald zum festgefahrenen Stellungskrieg wandelte, blieben die Frontverläufe im Osten weitgehend dynamisch. Die ständigen Angriffs- und Rückzugsgefechte führten dazu, dass die Frontabschnitte durch eine Dauermobilisierung gekennzeichnet waren und manche Gebiete mehrfach besetzt und wieder geräumt wurden. Besonders betroffen waren hier Galizien und die Bukowina, Ostpreußen, Russisch-Polen sowie das Baltikum.
Bereits das reguläre Gefahrenpotenzial der Dauermobilisierung und ständigen Kriegseinsätze erwies sich für die Zivilbevölkerung als verheerend. Hinzu kam, dass alle im Osten Krieg führenden Parteien bei ihren Rückzugsgefechten eine Strategie der Verbrannten Erde – also die systematische Zerstörung der Infrastruktur – verfolgten. Diese Taktik war jedoch laut Haager Landkriegsordnung (HLKO) Artikel 23(g) rechtswidrig, da dieser nicht unmittelbar kriegsnotwendige „Zerstörung oder Wegnahme feindlichen Eigentums“ verbot. Die Verwüstungen waren jedoch enorm und gingen über die Kriegsnotwendigkeit bei Weitem hinaus. So zeigt beispielsweise ein österreichischer Kommissionsbericht, dass allein in den nordöstlich gelegenen Gebieten der Habsburgermonarchie bis zum Winter 1916 etwa 177.000 Gebäude zerstört wurden. Besonders betroffen waren jene Gebiete, in denen die Besatzer oft wechselten. Hierzu zählte zum Beispiel der Landstrich zwischen Krakau und Rzeszów, der bis Kriegsende neun Mal eingenommen und wieder geräumt wurde.
Ein weiterer markanter Unterschied zur Westfront lag in der ethnisch-religiösen Heterogenität der im Osten ansässigen Bevölkerung. Zu den religiösen, ethno-politischen und teils sozial-darwinistisch motivierten Ressentiments gesellte sich seit Kriegsbeginn ein übersteigertes militärisches Misstrauen gegenüber den eigenen Bevölkerungsminderheiten. Vonseiten der Militärbehörden galten diese Minderheiten – die vielfach an den Außengrenzen und somit Kriegsschauplätzen des Reichs lebten – als unzuverlässige „innere Feinde“. Schon kurz nach Kriegsbeginn wurden sie somit auch vom eigenen Staat unter pauschalen Spionage-, Verrats- und Kollaborationsverdacht gestellt. Diese Unterstellungen führten zu einer unheilvollen Ausweitung der Kampfzone: Die Minderheitsbevölkerung dieser Gebiete hatte nicht nur die Gräueltaten der feindlichen Invasoren und Besatzer zu fürchten, sondern auch das eigene Militär.
Im Russischen Reich standen besonders die jüdischen und deutschen Minderheiten unter dem Generalverdacht der „Unzuverlässigkeit“. Da man sie pauschal der Feindeskollaboration bezichtigte, begann die russische Armee, sie bereits in den ersten Kriegsmonaten aus den sensiblen Front- und Etappenbereichen zu entfernen. Diese anfänglich noch unsystematischen lokalen Ausweisungen nahmen bald den Charakter massenhafter Zwangsdeportationen an. Insgesamt verschleppte und vertrieb die russische Armee etwa eine Million Juden sowie Zehntausende Deutsche aus den Grenzgebieten. Diese Vertreibungen gingen vielfach mit Pogromen, Massakern und Plünderungen einher. So schreibt der Feldprediger Arthur Levy im Dezember 1914 über die Lage der Juden in Russland: „Das Herz krampft sich mir zusammen, wenn ich hier in Polen sehe und höre, welch entsetzliche Gewalttaten an den Juden im Laufe dieses Krieges von den Russen verübt worden sind und tagtäglich verübt werden. Die Pogrome früherer Zeiten sind ein Nichts gegen die rasende Vernichtung jüdischer Häuser und jüdischen Lebens, die mit dem russischen Heere sich durch ganz Polen wälzt, mit ihm vorwärts, mit ihm rückwärts geht und es begleitet wie ein drohender Schatten. In mehr als 215 Ortschaften wurde bisher pogromiert, und es ist kein Ende dieses Schreckens abzusehen!“
Mindestens ebenso rücksichtslos gingen die Russen gegen die Zivilbevölkerung in den von ihnen besetzten Gebieten vor. Nachdem die russische Armee im Sommer 1914 die Bukowina und Galizien besetzte, kam es hier zu massiven Übergriffen gegen die noch nicht geflohenen Juden. Auch hier waren es antisemitische Ressentiments in Verbindung mit dem Pauschalverdacht der Spionage und der Feindeskollaboration, die massenhaft zu Hinrichtungen, willkürlichen Gewaltakten, Vergewaltigungen, Zerstörungen und Plünderungen führten. So schreibt etwa der Zeitgenosse Leon Weinrebe über den russischen Einfall in die Stadt Dębica (heute Polen): „Um 8 Uhr früh langten die Kosaken in Dembica an. Die Juden, die bereits die ersten Plünderungsqualen der gewöhnlichen ‚braven‘ Truppen überstanden hatten, waren mit ihren Frauen und Kindern in der Synagoge versammelt […]. Die Kosaken stürzten in die jüdischen Häuser mit Roß und Gewehr — und was nicht niet- und nagelfest war, wurde zertrümmert und auf die offene Straße geschleudert. Wie wilde Tiere stürzten sie sich über die wehrlosen Frauen […] und vergewaltigten sie. Die sich wehrten, wurden erdolcht und zu Tode getreten. Beherzte Frauen stürzten sich durch die Fenster und verletzten sich schwer, aber auch diese verschonten die Untiere nicht, von den blutigen Nagaikaprügeln starben viele auf dem Synagogenplatz unter qualvollen Schmerzen. […] Die Synagogengasse wurde dann in Brand gesteckt, und nach kurzer Zeit stand eine ganze Reihe Häuser in lodernden Flammen.“ Das Ausmaß der Übergriffe intensivierte sich besonders mit dem russischen Rückzug von April bis Oktober 1915. Neben der massiven Zunahme an Pogromen und Massakern wurde dabei „[...] die jüdische Bevölkerung […] in regelrechten ‚Treibjagden‘ vor die Front gestellt und gegen die österreichischen Stellungen getrieben“.
Überegger, Oswald: „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 241-278
Zitate:
"Das Herz krampft sich...": Levy, Arthur: Zur Lage der Juden in Rußland, insbesondere in Russisch-Polen. Offener Brief an „The American Hebrew" in New York. Von Rabbiner Dr. Arthur Levy, z. Z. in Lodz als Feldprediger bei der deutschen Armee im Osten, Lodz, 24. Dezember 1914; in: Jüdisches Archiv, Mitteilungen des Komitees „Jüdische Kriegsarchiv“ (Nr. 1), Wien 1915, 19
"Um 8 Uhr früh...": Weinrebe, Leon: Die Kosaken in Dembica. Nach Bericht von Leon Weinrebe an das „Frankfurter Israelitische Familienblatt“; in: ebd., 10
"[...] die jüdische Bevölkerung...": Überegger, Oswald: „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Neitzel, Sönke/Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/et al. 2008, 266
-
Kapitel
- Das Kriegsvölkerrecht. Genese einer Verrechtlichung
- Der Erste Weltkrieg und das geltende Kriegsrecht
- Die Westfront. Franktireur-Psychosen und der Krieg gegen die Zivilbevölkerung
- Russlands „innere Feinde“. Jüdische und deutsche Minderheiten an der Ostfront
- Die Kriegsverbrechen der k. u. k. Armee. Zwischen Soldateska und Standgericht
- Kriegsgefangenschaft. Das Recht, mit „Menschlichkeit behandelt zu werden“
- Verbotene Kriegsmittel: Dumdum-Geschosse und Giftgaseinsatz
- Die Leipziger Prozesse (1921-1927). Zwischen nationaler Schande und juristischer Farce