Töten und getötet werden

Gewalt und Tod waren an den Fronten des Ersten Weltkriegs allgegenwärtig und die Soldaten damit beinahe täglich konfrontiert. Die Angst vor Verwundung und dem eigenen Sterben war dabei ebenso stets präsent wie die visuelle Anwesenheit des Todes in Form „gefallener“ Gegner und eigener Kameraden. Zudem waren Gewalt und Tod auch im Kämpfen und im aktiven Tötungsakt immer wieder zugegen, was sich bei den meisten der 1914 eingezogenen Soldaten in vollkommen neuen und äußerst dramatischen Erfahrungen manifestierte.

In den allermeisten Feldpostbriefen, welche die Soldaten an ihre Angehörigen in der Heimat schrieben, blieben Schilderungen über das eigene Töten jedoch zumeist ausgespart. Neben den offiziellen Zensurmaßnahmen des k. u. k. Militärapparates spielte in diesem Zusammenhang auch die sogenannte „Selbstzensur“ der Soldaten eine große Rolle, die einerseits aus Rücksichtnahme auf die Lieben zu Hause geschah, andererseits aber auch aus den Vorstellungen und (Selbst-)Deutungen einer „soldatischen Männlichkeit“ heraus wirkte. Die Erlebnisse und Erfahrungen mit der alltäglichen Kriegsgewalt, dem Leiden und dem Tod ließen sich in Briefen meist nur schwer thematisieren, weswegen auch von Verwundungen und dem Tod der Kameraden nur sehr selten die Rede ist. Ähnliches gilt, so Christa Hämmerle, auch für die österreichische Erinnerungsliteratur zum Ersten Weltkrieg, wo „explizite Verweise auf das ‚Handwerk des Tötens’, den Nahkampf und die konkreten physischen und psychischen Folgen, die das alles für die Soldaten hatte, selten sind [...].

Der Tod hatte im Krieg viele Erscheinungsformen: Er konnte in Form von Krankheiten auftreten, im Gebirgskrieg eine Folge von Lawinenverschüttung und Abstürzen sein oder als tödliche Verwundung durch ein Geschoss in Erscheinung treten. Nach dem Historiker Benjamin Ziemann war die Artillerie jene Waffengattung, die am meisten für Verwundungen und Todesfälle unter den Soldaten an der Westfront verantwortlich war. So rührten bis zum Jahr 1917 76 % aller Verwundungen der französischen Soldaten von Artilleriegeschossen her; eine Häufigkeit, die laut Erhebungen von 1917 auch für die Soldaten der deutschen Armee zutraf. Bei den Artilleristen wiederum war das eigene Tötungsrisiko geringer als beispielsweise bei den Infanteristen. Statistische Daten für Österreich-Ungarn belegen, dass die Infanterie bei weitem die höchsten Verlustzahlen zu verzeichnen hatte. Alleine bis März 1915 waren 70.497 Mannschaftsangehörige der Infanterie tot, 358.480 verwundet und weitere 369.548 vermisst. Bis November 1918 stiegen diese Zahlen auf 330.226 Todesfälle, 1,364.161 Verwundete und 822.535 Vermisste.

Unabhängig davon, auf welche Art und Weise ein Soldat verwundet oder getötet wurde, mussten alle ‚Verluste‘ – und darunter wurde nicht nur der Verlust eines Menschenlebens, sondern auch der Verlust von ‚Kampfeskraft‘ durch Verwundung, Krankheit, Gefangenschaft oder Vermisstwerden verstanden – in Listen festgehalten werden, die wiederum direkt ans Kriegsministerium gesendet wurden.

Prinzipiell sollten alle Toten der eigenen wie gegnerischen Seite geborgen, identifiziert und bestattet werden. Dies hatte nicht nur hygienische Gründe, wie den Schutz vor Krankheiten und Seuchen, sondern war auch eine letzte Wertschätzung und Ehrung für die Gefallenen. Dies gelang oft nicht und viele der „für das Vaterland Gefallenen“ konnten nicht identifiziert werden oder waren schlicht und einfach nicht mehr identifizierbar. Ebenso viele von ihnen blieben ohne letzte Ruhestätte, wovon diese Zeilen, die der Tiroler Kaiserjäger Johann Mittermaier seinem Tagebuch anvertraute, zeugen: „Überall lagen die Gefallenen herum. Schreckliche Leichen, verwest oder zusammengeschrumpft, mit verkrampften Händen und Füßen und klaffendem Mund. (…) Eine Abends, im fahlen Licht des Mondes, befahl Leutnant P., diesen Berggipfel (…) von den Leichen zu säubern. An der Scharte (…) gähnte nordwärts eine steile, tiefe Schlucht herauf. Dort unten sollten die Toten versenkt werden. Je zwei Mann faßten eine Leiche unter den Knien und Achseln, trugen sie bis zum Rand und warfen sie mit Schwung hinab. Niemand sprach von einer Identifizierung“.

 

 

Bibliografie 

Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007

Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg. Bd. XI, 2. Teilband: Weltkriegsstatistik Österreich-Ungarn 1914 – 1918. Bevölkerungsbewegung, Kriegstote, Kriegswirtschaft, bearbeitet von: Rumpler, Helmut und Schmied-Kowarzik, Anton, Wien 2014, Tabelle 25: Verluste nach Waffengattungen 1915-1918, 187–189, hier: 187

Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

Rauchensteiner, Manfried: Kriegermentalitäten. Mistzellen aus Österreich-Ungarns letztem Krieg, in: Dornik, Wolfram/Walleczek-Fritz, Julia/Wedrac, Stefan (Hrsg.): Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2014

Reimann, Aribert: Wenn Soldaten vom Töten schreiben – Zur soldatischen Semantik in Deutschland und England, 1914–1918, in: Gleichmann, Peter/Kühne, Thomas (Hrsg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004, 307–319

Überegger, Oswald: Verbrannte Erde und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg, in: Neitzel, Sönke / Hohrath, Daniel (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien 2008, 241–278

Ziemann, Benjamin: Soldaten, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn/München/Wien 2009, 155–168

 

Zitate:

„explizite Verweise auf ...“: Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

„So rührten bis zum Jahr 1917 ...“: Zahlenangaben, zitiert nach: Ziemann, Benjamin: Soldaten in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 3. Auflage, Paderborn/München/Wien 2009, 157

„Alleine bis März 1915 ...“: Zahlenangaben, zitiert nach: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg. Bd. XI, 2. Teilband: Weltkriegsstatistik Österreich-Ungarn 1914–1918. Bevölkerungsbewegung, Kriegstote, Kriegswirtschaft, bearbeitet von: Rumpler, Helmut und Schmied-Kowarzik, Anton, Wien 2014, Tabelle 25: Verluste nach Waffengattungen 1915-1918, 187

„Überall lagen die Gefallenen ...“: Mittermaier, Johann: Der Schrecken des Krieges. Die Erinnerungen eines Südtiroler Kaiserjägers aus dem 1. Weltkrieg, Brixen 2005, 51, zitiert nach: Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007, 259

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?