‚Alltag‘ ohne Kampfgeschehen – ‚Alltag‘ trotz Kampfgeschehens

Der ‚Alltag‘ an der Front gliederte sich in unterschiedlich intensive Zeitabschnitte. Dabei gab es sowohl Perioden, die durch extreme Belastungen und ein hohes Gefahrenpotenzial gekennzeichnet waren, als auch Zeiten, in denen die Soldaten „relative Ruhe und [sogar] Entspannung“ fanden.


 

In der sogenannten „Etappe“ sollten sich die Soldaten in erster Linie von den Strapazen im Fronteinsatz erholen, sich schonen und ihre ‚Kampfeskraft‘ wieder erlangen. ‚Ablenkungen‘ und ‚Zeitvertreib‘ fanden in Form von Ausflügen in nahe gelegene Orte und Dörfer statt, wo Kaffee- oder Gasthäuser besucht wurden. Nicht selten kam es in diesem Rahmen auch zu einem ausführlichen Alkoholkonsum. Daneben hatten die Soldaten – wo solche vorhanden waren – die Gelegenheit das Fronttheater oder Frontkino und auch das Bordell zu besuchen. Eigens geschaffene Soldatenheime, die, so Isabelle Brandauer,  „nach Konfessionen getrennt[e]“ waren, boten die Möglichkeit, Zeitungen und Bücher zu lesen oder Karten zu spielen. Aber auch das Lesen und Verfassen von Post in Form der millionenfach von den Frontsoldaten und ihren Angehörigen in der Heimat versandten Feldpostbriefe und -karten konnte in der „Etappe“ erledigt werden.

Zum soldatischen ‚Alltag‘ abseits des Kampfgeschehens gehörten aber auch der militärische Drill, der sich nicht nur in den stets zu erledigenden baulichen Tätigkeiten an den Schützengräben und Stellungen niederschlug, sondern auch Aus- und Fortbildungen. Dazu zählten etwa Kurse, die den Soldaten lehren sollten, wie mit Minenwerfern, Handgranaten oder Gasmasken umzugehen war, oder Schi- und Kletterkurse für den Einsatz an der Südwest-Front.

Religiöse Feiertage oder der Geburts- und Namenstag des Kaisers waren auch für die Soldaten Ereignisse, die im Frontalltag willkommene Abwechslungen boten. Wie Christa Hämmerle festhielt, waren es dabei vor allem die katholischen Soldaten, die mit einem Prozentsatz von 75 % bis 80 % gegenüber ihren evangelischen, jüdischen, muslimischen und serbisch-orthodoxen Kameraden nicht nur die bei weitem größte konfessionelle Gruppe darstellten, „sondern [und] ungeachtet des verfassungsmäßig verankerten Anspruchs auf Gleichstellung – auch die meisten Rechte oder Möglichkeiten zur Ausgestaltung der religiösen Praxis [hatte].

Religion spielte als Sinnstiftung und Deutungsrahmen für viele Soldaten aller vertretenen Konfessionen sicherlich eine wichtige Rolle. Gleichzeitig lassen sich jedoch bei den Soldaten auch religiöse Zweifel und Sinnkrisen beobachten, wie Forschungen beispielsweise von Benjamin Ziemann und Matthias Rettenwander belegen konnten.

Prinzipiell versuchte man, nicht nur zu religiösen Festen Gottesdienste abzuhalten, sondern auch regelmäßig Feldmessen stattfinden zu lassen. Die katholischen Feldvikare spendeten die Sakramente, bestatteten die Toten und versorgten die Soldaten mit einschlägiger Literatur. Ähnliches galt für die während des Kriegs eingesetzten Feldrabbiner, von denen es „1918 (…) im k. u. k. Heer“, so Erwin Schmidl, „nicht weniger als 76 (…) [gab]“.

Ein Ereignis, das die Soldaten wohl täglich begleitete, ihre Gedanken, Erwartungen und Sehnsüchte beherrschte, war der Heimaturlaub. Er bot eine willkommene Möglichkeit, dem Frontalltag für einige Zeit zu entkommen und die Ehefrau, Verlobte, Freundin, die Kinder, Eltern und Geschwister, deren Besuche in den Stellungen verboten waren, wiederzusehen. Dementsprechend häufig waren die Gesuche um Urlaub, die jedoch sehr selten und ungleichmäßig bewilligt wurden – eine Praxis, welche die Soldaten als ungerecht empfanden. Das galt auch für Gesuche, die einen Ernteurlaub oder die Heimreise bei einem Todesfall in der Familie zum Gegenstand hatten. Hinzu kamen Urlaubssperren, die vor und bei größeren Truppenverschiebungen oder Offensiven in Kraft traten. Nicht selten standen Soldaten daher über ein Jahr ununterbrochen im Frontdienst. Die Unausgewogenheit bei der Bewilligung des Heimaturlaubs unter den Kameraden und noch viel mehr im Verhältnis zu den vorgesetzten Offizieren hatte großen Einfluss auf die Stimmung in den Mannschaften, die nicht selten von Wut und Hass gegenüber den ‚bevorzugten Kampfgefährten‘ geprägt war.

Wurde ein Urlaubsgesuch endlich bewilligt, war die Erleichterung und Freude dementsprechend groß und der Betreffende konnte mit seinem Urlaubsschein losziehen. Dieser musste gut verwahrt und bei Nachfrage vorgezeigt werden. „Für die Personen der Armee im Felde“ hingegen, so Isabelle Brandauer, „[galt] der ‚Offene Befehl‘ [als] Reisedokument“.

 

 

Bibliografie 

Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007

Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

Rettenwander, Matthias: Der Krieg als Seelsorge. Katholische Kirche und Volksfrömmigkeit in Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2006

Schmidl, Erwin A.: Juden in der k.(u.)k. Armee 1788–1918, Eisenstadt 1989

Ziemann, Benjamin: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997

 

Zitate:

relative Ruhe und [sogar] Entspannung“: Ziemann, Benjamin: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, 76

„nach Konfessionen getrennt[e]“ : Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007, 83

„Dazu zählten etwa Kurse …“: Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007, 87-90

„ungeachtet des verfassungsmäßig ...“: Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

„1918 (…) nicht weniger als 76 …“: Schmidl, Erwin A.: Juden in der k. (u.) k. Armee 1788–1918, Eisenstadt 1989, 80

„die Personen der Armee im Felde ...“: Brandauer, Isabelle: Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917, Innsbruck 2007, 104

„Gleichzeitig lassen sich jedoch bei den Soldaten auch religiöse Zweifel und Sinnkrisen …“: Literaturverweise auf: Ziemann, Benjamin: Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, insbes. 246–265; Rettenwander, Matthias: Der Krieg als Seelsorge. Katholische Kirche und Volksfrömmigkeit in Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2006.

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?