Die Geschichtslosen?

Im Sommer 1914 konnte sich in der Habsburgermonarchie wohl noch niemand vorstellen, welche Auswirkungen der kommende Krieg zeitigen und welches Ausmaß an Leid er verursachen würde. Auch war es zweifellos für die wenigsten vorstellbar, dass der als Vergeltungsfeldzug stilisierte „Gang nach Serbien“ mehr als vier Jahre dauern und in dieser Zeit alles in allem an die acht bis neun Millionen Männer (die Zahlenangaben divergieren in der Literatur) eingezogen werden würden. Sie sind jenes anonyme und namenlose Kollektiv, über dessen Kriegsalltag an den Fronten der österreichisch-ungarischen Monarchie wir bis heute nur unzureichende Kenntnisse haben. Denn bis auf wenige Ausnahmen wurden Fragen nach den alltäglichen Erlebnissen, Wahrnehmungen, Sinnstiftungen und Deutungen vor allem der Mannschaftsoldaten bis vor Kurzem in der österreichischen Historiographie zum Ersten Weltkrieg nur zögerlich gestellt.

 

 

Das mag überraschen und verwundern, denn betrachtet man, so die Historikerin Christa Hämmerle, die damalige Kriegsgesellschaft und ihre militärischen Führer, so [galt] den Soldaten – den realen wie den imaginierten – [...] den ganzen Krieg über die höchste Aufmerksamkeit und Priorität“.

Zudem kann auch die österreichische Forschungslandschaft zum Ersten Weltkrieg auf eine umfangreiche internationale Forschungsliteratur zurückgreifen. So stellte beispielsweise die seit den 1980er Jahren ‚boomende‘ Alltagsgeschichte Selbstzeugnisse der Kriegsteilnehmer, wie Tagebücher, Feldpostbriefe und lebensgeschichtliche Erinnerungen, in den Fokus ihrer Untersuchungen. Zusammen mit erfahrungs-, frauen- und geschlechter- sowie kulturgeschichtlichen Perspektivierungen, die in den letzten Jahren in geschichtswissenschaftliche Forschungen zu Krieg und Militär Einzug gehalten haben, lenkten solche Quellen den Blick auf Fragen nach dem individuellen Erfahren, Erleben und Erinnern, nach Selbstwahrnehmungen und -deutungen, Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen, (kollektiven) Identitäten und anderem mehr.

Untersuchungen, die diesen Forschungsprämissen folgen, konnten so mitunter auch herausarbeiten, dass es den (!) Frontalltag oder die (!) Kriegserfahrung des (!) Soldaten nicht gegeben hat. Vielmehr müssen sich Historikerinnen und Historiker mit einer Fülle individueller Einzelerfahrungen auseinandersetzen, die wiederum zeit- und kontextgebunden und damit nicht leicht zu verallgemeinern sind. Denn die jeweiligen Fronterfahrungen waren von vielen Umständen geprägt und hingen von diesen ab. Dazu gehörten etwa die Stellung und der Dienstgrad, den man innehatte, die Waffengattung, der man angehörte, der Einsatzort und die Einsatzdauer, das Gefüge innerhalb der eigenen Truppe, das Verhältnis zu den vorgesetzten Offizieren und anderes mehr. Daneben müssen Faktoren wie das Lebensalter, die wirtschaftliche und soziale Situation, der Familienstand und in Hinblick auf das multiethnische Habsburgerreich insbesondere auch die nationale Zugehörigkeit der Soldaten berücksichtigt werden.

 

 

Bibliografie 

Bachinger, Bernhard/Dornik, Wolfram: Jenseits des Schützengraben-Narrativs? Einleitende Bemerkungen über Kriegserfahrung und Kriegserinnerung an der Ostfront im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, Innsbruck/Wien/Bozen 2013, 11–23

Hämmerle, Christa: Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Eine Einführung, in: Dies.: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn, Wien/Köln/Weimar 2014, 9–25

Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nicola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2013

Szlanta, Piotr: Unter dem sinkenden Stern der Habsburger. Die Ostfronterfahrung polnischer k.u.k. Soldaten, in: Bachinger, Bernhard/Dornik, Wolfram (Hrsg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrungen – Wahrnehmungen – Kontext, Innsbruck/Wien/Bozen 2013, 139–156

 

Zitate:

„[galt] den Soldaten –  ...“: Hämmerle, Christa: Soldaten, in: Labanca, Nikola/Überegger, Oswald (Hrsg.): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Krieg, Wien/Köln/Weimar 2014, im Druck

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.