Die Mobilisierungskrise der ersten Kriegsmonate

Die ersten Kriegsmonate waren durch einen ausgeprägten Anstieg der Arbeitslosigkeit in Wien geprägt. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe, selbst in kriegswichtigen Branchen wie der Metallverarbeitung, litten unter dem Einbruch der Konsumnachfrage, wogegen die Umstellung auf kriegswichtige Produkte noch nicht vollzogen war.

Das im Zuge des zweiten Balkankrieges im Jahr 1912 erlassene und am 26. Juli 1914 in Kraft gesetzte Kriegsleistungsgesetz erlaubte die unmittelbare, rasche Militarisierung kriegswichtiger Produktionszweige. Auf seiner Basis wurden nach und nach nahezu alle arbeitsfähigen männlichen Zivilpersonen im Alter von bis zu 50 Jahren für die Produktion kriegswichtiger Güter – bei Kündigungsverbot – herangezogen. Am 18. März 1917 wurden auch Frauen direkt dem Kriegsleistungsgesetz unterstellt. Schon mit dem Anrollen der ersten Truppentransporte an die serbische und russische Front forderte der Krieg den Zugriff auf ökonomische Ressourcen, wie das bei keinem vorangegangenen Konflikt der Fall gewesen war. Die Folgen der „Anspannung aller Kräfte“ wurden daher bereits in den ersten Augustwochen 1914 am Wiener Arbeitsmarkt spürbar. Da die Heeresleitung kaum Rücksicht auf die Kriegswichtigkeit von Fachkräften nahm und zudem Transportmittel in großem Stil requirierte, waren die ersten Kriegswochen von hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Bis Ende August 1914 stieg die Zahl der Arbeitslosen nach zeitgenössischen Schätzungen auf rund 150.000. Betroffen waren vor allem kleinere und mittlere Betriebe, die für die Rüstung keine Relevanz besaßen. Das betraf selbst metallverarbeitende Gewerbe. In den ersten drei Augustwochen stellten allein 566 Wiener Betriebe dieser Branche ihre Produktion ein. Von 85.000 Metallarbeitern waren etwa 12.000–13.000 arbeitslos.

Während diese strukturelle Arbeitslosigkeit nach der Umstellung des Wiener Produktionssektors auf Kriegsproduktion rasch abgebaut wurde, stellten die Folgen der Einrückungen ein dauerhaftes Problem dar. Das Angebot an verfügbaren männlichen Arbeitskräften (der gesamten österreichischen Reichshälfte) schrumpfte schon bis Ende 1914 auf 75 % des Ausgangswertes, während das der weiblichen zunächst nur geringfügig zunahm. Auch Wiener Betriebe waren davon massiv betroffen, wie die Gewerbeinspektoren in ihren Berichten festhielten. Über einen das Industriegebiet in Floridsdorf einschließenden Wiener Aufsichtsbezirk heißt es dazu: „Mit dem Beginne der Mobilisierung verließ neben einer Unzahl untergeordneter Hilfskräfte ein Großteil der tüchtigsten qualifizierten Arbeiter, ferner ein hoher Prozentsatz der leitenden Beamten die Betriebe, um der militärischen Einberufung zu folgen.“ Auch Einzelbeispiele belegen den allgegenwärtigen Arbeitskräftemangel: Von 5.500 Bediensteten der Wiener Siemens-Schuckert-Werke waren Ende 1914 gut ein Viertel bereits eingerückt. Von den städtischen Straßenbahnen wurden mit der Mobilmachung von 12.700 Angestellten rund 6.000 Mann einberufen. Den nachrückenden Arbeitskräften fehlte zum erheblichen Teil die Qualifikation und nicht zuletzt auch die physische Konstitution, um das Produktivitätsniveau aufrechtzuerhalten. Als nachteilig erwies sich auch die ab Ende 1916 erfolgte Umsetzung des sogenannten Hindenburg-Programms, welches mit seiner Fokussierung auf die Rüstungsindustrie zu einer Vernachlässigung der Transportinvestitionen führte und dadurch den Rohstoffmangel beschleunigte. Mit Fortdauer des Krieges brachten schließlich vor allem Unterernährung und Rohstoffmangel den Motor der Rüstungsindustrie immer mehr ins Stottern. Als dann zu Beginn des Jahres 1918 auch die jüngsten Jahrgänge einrücken mussten, führte der Arbeitskräftemangel im Herbst 1918 faktisch in den ökonomischen Zusammenbruch.

Bibliografie 

Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich (Materialien zur Arbeiterbewegung 46), Wien 1987

Bericht der k. k. Gewerbe-Inspektoren über ihre Amtstätigkeit im Jahre 1914, Wien 1915

Egger, Rainer: Heeresverwaltung und Rüstungsindustrie, in: Baltzarek, Franz/Brauneder, Wilhelm (Hrsg.): Modell einer neuen Wirtschaftsordnung. Wirtschaftsverwaltung in Österreich 1914–1918, Frankfurt/M. et al. 1991, 81–104

N.ö. Handels- und Gewerbekammer in Wien: Bericht über die Industrie, den Handel und die Verkehrsverhältnisse in Niederösterreich während der Jahre 1914–1918, Wien 1920

Wegs, Robert J.: Die österreichische Kriegswirtschaft 1914–1918, Wien 1979

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?