Langfristige wirtschaftspolitische und strukturelle Folgen
Die Statistik der Gewerbeanmeldungen und -abmeldungen belegt zwar eine von der Kriegskonjunktur ausgelöste, nicht zu unterschätzende Gründungstätigkeit auch im Kleingewerbe, allerdings um den Preis einer erheblichen Abnutzung der Betriebsausstattung. Deshalb überstanden großbetrieblich organisierte Leichtindustrien den Krieg noch am besten, während andere Teile des Produktionssektors schwere Einbußen zu verzeichnen hatten.
Substanzverluste in der Kapitalausstattung charakterisierten auch die Entwicklung der Klein- und Mittelbetriebe. Wie die Statistik der Gewerbebewegungen belegt, nahm die Zahl der Gewerbebetriebe 1914–1916 durch Schließung und Verlagerung ab. Die Jahre 1917 und 1918 zeigten dann wieder satte Zuwächse, sodass bei Kriegsende die Zahl der Betriebe im Vergleich zu 1913 sogar zugenommen hatte. Wie sich anhand der rückläufigen Inbetriebnahme von Motoren – deren Zahl 1915–1918 rund ein Drittel des Jahres 1914 betrug – zeigen lässt, bestanden bei Kriegsende jedoch große Ausstattungsdefizite.
Die durch die Anforderungen der Kriegsproduktion ohnehin bestehende Schieflage zwischen Groß- und Kleinproduzenten verschärfte sich, als in der ersten Jahreshälfte 1916 durch die Blockade der Entente und den 1915 erfolgten Kriegseintritt Italiens der Rohstoffmangel immer akuter wurde. Nun rückte das Verteilungsproblem in den Mittelpunkt. Bis zum Herbst 1917 hatte sich die Zahl der nach und nach eingerichteten Rohstoff-„Zentralen“ auf 91 erhöht. Während in der ersten Kriegsphase die als private Handelsgesellschaften oder öffentlich-rechtliche Korporationen organisierten „Zentralen“ als Verteilungsstellen allein vorherrschten, traten mit Fortdauer des Krieges vom Handelsministerium zwangsweise verordnete kartellhafte Zusammenschlüsse, die „Kriegsverbände“, dazu. Wirtschaftspolitisch entstand mit dem Anlaufen des „Hindenburg-Programms“ ab dem Winter 1916/17 ein schwerer Konflikt zwischen Kriegs- und Handelsministerium. Während Ersteres dazu übergehen wollte, die Heeresaufträge – zunächst in der Textil- und Lederproduktion – auf die Großproduzenten zu konzentrieren, fürchtete das Handelsministerium den Niedergang des Kleingewerbes und daraus resultierende soziale Unruhen und setzte sich letztlich mit einer gleichmäßigeren Verteilung der Aufträge durch. Der für die weitere korporatistische Entwicklung der österreichischen Wirtschaftsverfassung charakteristische Weg eines staatlich organisierten Kapitalismus als Mittelstandsschutz war damit während des Krieges bereits vorbereitet.
Zwar fanden im betrachteten Zeitraum keine Gewerbezählungen statt, doch ermöglichen die Statistik der unfallversicherungspflichtigen Betriebe und die im Zuge der Volkszählung durchgeführten Berufszählungen der Jahre 1910 und 1923 einen Überblick über die strukturellen Verwerfungen der Kriegsproduktion. Die Zahl der unfallversicherungspflichtigen Betriebe nahm im Zeitraum 1914–1918 um 4,6 %, davon die der „fabriksmäßigen“ gar um 10,6 % zu. Unter diesen größeren Betrieben zählte die Maschinen-, Chemie- und Bekleidungsindustrie zu den unmittelbaren Kriegsgewinnern. Nach der Berufszählung von 1923 weiteten Maschinen-, Elektro- und chemische Industrie ihren Beschäftigtenstand im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich aus. Diese modernen Industriezweige überstanden die Nachkriegsjahre relativ glimpflich. Manche gingen sogar als „Gewinner“ aus der Kriegsperiode hervor. Allerdings entsprachen diese Veränderungsmuster durchaus jenen, die sich bereits vor dem Krieg abgezeichnet hatten und als „zweite Industrielle Revolution“ mit dem Aufstieg von Leichtindustrien verbunden waren.
Hecker, Peter: Kriegswirtschaft – Modell einer neuen Wirtschaftsverfassung? Pläne und Ziele der österreichischen Regierungen während des Ersten Weltkrieges, in: Baltzarek, Franz/Brauneder, Wilhelm (Hrsg.): Modell einer neuen Wirtschaftsordnung. Wirtschaftsverwaltung in Österreich 1914–1918 (Rechtshistorische Reihe 74), Frankfurt am Main et al. 1991, 33–63
Neck, Rudolf: Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918 (A. Quellen). I: Der Staat, Band 2: Vom Juni 1917 bis zum Ende der Donaumonarchie (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich 4), Wien 1968
Schiff, Walter: Die Berufsverhältnisse in Wien und deren Entwicklung (Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, Jg. 1928, Sonderheft 2), Wien 1928, 45–47
Wessels, Jens-Wilhelm: Economic Policy and Microeconomic Performance in Inter-War Europe. The Case of Austria, 1918–1938 (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 25), Stuttgart 2007
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Kapitel
- Ein wichtiger Industriestandort – Wien vor dem Ersten Weltkrieg
- Die Mobilisierungskrise der ersten Kriegsmonate
- Die Produktion von Rüstungsgütern in Wien
- Das Arsenal als Rüstungsschmiede
- Gerätschaften für den mobilen Krieg
- Kriegsgewinner und Kriegsgewinnsteuer
- Langfristige wirtschaftspolitische und strukturelle Folgen