In den Parlamenten der Mittelmächte hielten sich die alten Eliten. Unfähig, sich aus der Kriegsfessel zu befreien, klammerten sie sich weiterhin an die Illusion eines „Siegfriedens“. In der Bevölkerung hingegen ließen die langen Listen der Gefallenen, die Präsenz von Kriegsinvaliden und die Versorgungsengpässe Zweifel an der Sinnhaftigkeit des anfangs begrüßten Krieges aufkommen.
Aufgrund der nicht funktionierenden Versorgung herrschte in Österreich-Ungarn in weiten Teilen der Bevölkerung Orientierungslosigkeit und Apathie. Die immer schwierigere Sicherung auch der grundlegendsten Lebensbedürfnisse ließ die Menschen mit Abstumpfung auf die Kriegspropaganda und Durchhalteparolen reagieren. Doch unter der zunächst noch ruhigen Oberfläche begann es zu gären.
Eine der letzten Klammern, auf die die Staatsmacht zurückgreifen konnte, war das Militär. Soldaten kämpften nicht nur an der Front, sondern wurden auch im Hinterland in sogenannten Assistenzeinsätzen verwendet, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Gegen Revolten, Hungerkrawalle und Plünderungen wurde mit großer Brutalität vorgegangen, um revolutionäre Tendenzen im Keim zu ersticken. Doch auch in der Armee zeigte die Disziplin erste Risse. Desertion stand auf der Tagesordnung und im Februar 1918 kam es erstmals zu einer Revolte unter Marineeinheiten, die in der Bucht von Cattaro (Kotor, heute in Montenegro) vor Anker lagen. Weitere lokale Meutereien unter Soldaten im gesamten Reichsgebiet sollten folgen.
Die Regierung verstärkte ihren autoritären Kurs. Auf die Zuspitzung der Lage reagierte die Führung mit polizeistaatlichen Maßnahmen und der Beschränkung der Bürgerrechte. Vor allem im Bereich des Arbeitsrechts kam es zu Verschärfungen wie Streikverbot, Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 60 Stunden und Lohnreduktion. Extrem waren die Maßnahmen in der Rüstungsindustrie, wo die ArbeiterInnen unter ein strikt militärisches Regime gestellt wurden.
Andererseits versuchte man mit einem Entgegenkommen bei sozialpolitischen Forderungen gegenzusteuern, wie z. B. im Bereich des Mieterschutzgesetzes (Stichwort „Friedenszins“). Sozialpartnerschaftliche Maßnahmen wie die Einbeziehung von ArbeiterInnenvertretern hoben das Selbstvertrauen der Arbeiterschaft als systemerhaltende Kraft im Hinterland.
Im linken Lager war die Friedenssehnsucht mit dem Wunsch nach einem radikalen gesellschaftlichen Wandel verbunden. Die russische Revolution und der Zusammenbruch des zaristischen Regimes dienten hier als Vorbild. Das Schreckgespenst des Sozialismus rief unter den traditionellen Eliten des Adels und des Bürgertums die Angst vor einer ähnlichen Entwicklung hervor.
Nachdem es bereits im November 1917 zu prosowjetischen Demonstrationen gekommen war, traf im Januar 1918 eine Serie von Generalstreik-Aufrufen der Sozialisten und des linken Flügels der Sozialdemokraten auf großen Widerhall: Über 700.000 ArbeiterInnen im gesamten Gebiet der Monarchie schlossen sich über alle nationalen Grenzen hinweg dem Ausstand an.
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, Paderborn/Wien [u.a.] 2009
Leidinger Hannes/Moritz, Verena: Der Erste Weltkrieg, Wien [u.a.] 2011
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013
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Kapitel
- Das Kriegsgeschehen 1917–1918: Im Angesicht des drohenden Unterganges
- Die Situation im Hinterland
- Apathie und Widerstand – Die Stimmung in der Bevölkerung
- Die Sixtus-Affäre: Ein diplomatischer Super-GAU
- Ein „Programm des Weltfriedens“ – Die 14 Punkte von Präsident Wilson
- „An Meine getreuen österreichischen Völker!“ – Das Völkermanifest Kaiser Karls
- Der Zusammenbruch
- Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil I: Auf dem Weg zur Selbstbestimmung
- Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil II: Die Situation in Wien und Budapest
- Die letzten Tage der Monarchie