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Thema Das Ende des Krieges
Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil II: Die Situation in Wien und Budapest
Als die anderen Nationalitäten mit der Ausrufung der Unabhängigkeit ihren Austritt aus der Monarchie bereits beschlossen hatten, versuchten auch die beiden „Staatsvölker“ der alten Doppelmonarchie, die Deutsch-Österreicher und die Magyaren, Maßnahmen für ihre weitere Existenz zu treffen.
Am 21. Oktober 1918 traten die deutschsprachigen Mitglieder des österreichischen Abgeordnetenhauses im niederösterreichischen Landhaus in Wien zu einer konstituierenden Sitzung zusammen. Sie folgten damit dem Aufruf zur Bildung von Nationalausschüssen, wie Kaiser Karl dies in seinem Völkermanifest vorgeschlagen hatte.
Die versammelten Abgeordneten repräsentierten die deutschen Wahlbezirke der Alpen- und Donauländer sowie der Böhmischen Länder und hatten ihr Mandat noch 1911 bei der letzten Reichsratswahl erhalten. Aufgrund der Aussetzung des Reichsrates von 1914 bis 1917 war es seither zu keinen Neuwahlen gekommen, sodass die Legislaturperiode mittels einer kaiserlichen Verfügung bis Ende 1918 verlängert worden war. Die Zusammensetzung des Nationalausschusses bildete daher die politische Situation der Vorkriegszeit ab. Die Mehrheit lag dementsprechend bei den Konservativen aus dem deutschnational-liberalen und dem christlich-sozialen Lager. Die Sozialdemokraten waren in der Minderheit, sollten aber angesichts des Autoritätsverlustes der traditionellen Eliten in den Augen der breiten Bevölkerung bald die Initiative übernehmen.
Diese provisorische Nationalversammlung schritt am 30. Oktober 1918 zur Gründung des Staates Deutschösterreich. Die Wahl der Staatsbezeichnung war weniger Ausdruck einer deutsch-nationalen Orientierung, als Darstellung des Ist-Zustandes aus der damaligen Sicht: Das Staatsgebilde sollte ja die deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte umfassen, die seit 1917 offiziell als „Österreich“ bezeichnet wurden. „Deutschösterreich“ war zu diesem Zeitpunkt ein mehr oder weniger virtueller Staat ohne fixe Grenzen und war rein nach national-ethnischen Gesichtspunkten und gemäß der Maxime des Selbstbestimmungsrechts der Völker geschaffen worden.
Für die zukünftige Existenz wurden zwei Optionen herausgearbeitet: Eine Möglichkeit sah man in einem Zusammenschluss mit Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches zu einem gemeinsamen Donaureich auf demokratischer Grundlage. Falls dies angesichts des geringen Interesses vonseiten der sich gerade bildenden Nationalstaaten Zentraleuropas nicht möglich war, fasste man einen Anschluss an Deutschland als einzig gangbaren Weg ins Auge. Eine staatliche Selbständigkeit, die sich als die realistischste Option herausstellen sollte, war ursprünglich nicht intendiert.
Ein Vollzugsausschuß, später Staatsrat genannt, formierte sich unter dem Vorsitz von Karl Renner, dem die Führung der Regierungsgeschäfte anvertraut wurde. Der Staatsrat stand in enger Zusammenarbeit mit der Liquidationsregierung unter Heinrich Lammasch, die am 27. Oktober von Kaiser Karl berufen wurde, und deren eigentliche Aufgabe es war, die Auflösung der Monarchie zu koordinieren. Mit der Verzichtserklärung Karls am 11. November wurde der Schlussstrich unter die habsburgische Herrschaft gezogen. Am 12. November 1918 wurde schließlich in Wien die Republik ausgerufen.
In der ungarischen Reichshälfte kündigte die Budapester Regierung angesichts der Desintegration des österreichischen Teilstaates am 24. Oktober den Ausgleich auf und reduzierte die Verbindung zu Österreich auf eine bloße Personalunion unter einem gemeinsamen Monarchen.
Am 28. Oktober entstand auch in Ungarn unter dem Vorsitz von Michael Graf Károlyi ein Nationalrat, dessen Zielsetzungen ein rascher Friedensschluss und der Abfall von der Habsburgermonarchie sowie die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes und eine Bodenreform waren. Vorprogrammiert waren dabei Konflikte durch die Forderung, das Königreich Ungarn in seinen bisherigen Grenzen zu erhalten, während die anderen Volksgruppen Ungarns wie die Slowaken, Südslawen und Rumänen bereits ihre Siedlungsgebiete als unabhängig erklärt hatten. In Budapest kam es in den Tagen des Umsturzes zu gewalttätigen Ausschreitungen, u. a. wurde der ehemalige „starke Mann Ungarns“, Ex-Premier Graf Tisza am 31. Oktober erschossen. Nachdem am 13. November Karl ebenfalls eine Verzichtserklärung als König von Ungarn abgerungen werden konnte, wurde am 16. November in Ungarn die Republik ausgerufen.
Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013
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Kapitel
- Das Kriegsgeschehen 1917–1918: Im Angesicht des drohenden Unterganges
- Die Situation im Hinterland
- Apathie und Widerstand – Die Stimmung in der Bevölkerung
- Die Sixtus-Affäre: Ein diplomatischer Super-GAU
- Ein „Programm des Weltfriedens“ – Die 14 Punkte von Präsident Wilson
- „An Meine getreuen österreichischen Völker!“ – Das Völkermanifest Kaiser Karls
- Der Zusammenbruch
- Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil I: Auf dem Weg zur Selbstbestimmung
- Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil II: Die Situation in Wien und Budapest
- Die letzten Tage der Monarchie