Der Zerfall der Habsburgermonarchie – Teil I: Auf dem Weg zur Selbstbestimmung

Für die nicht-deutschen und nicht-magyarischen Völker öffnete der beginnende Zerfall der Monarchie neue Perspektiven

Die führenden politischen Repräsentanten der „anderen“ Nationalitäten änderten im Herbst 1918 ihre Haltung gegenüber der Monarchie als staatlichen Rahmen für ihre nationale Existenz. Das Schlagwort der Selbstbestimmung war die Antwort auf den Unwillen der politischen Vertreter der Deutsch-Österreicher und Magyaren, einer radikalen Umgestaltung der Monarchie zuzustimmen. Karls Manifest vom 16. Oktober 1918 kam als halbherziger Versuch viel zu spät – das Angebot der Föderalisierung ging ins Leere.

Als Beispiel für diesen Wandel in der Haltung zur Habsburgermonarchie kann die Entwicklung bei den Tschechen herangezogen werden. Innerhalb dieser drittgrößten Volksgruppe der Monarchie war die Emanzipationsbewegung am weitesten entwickelt, wobei sich zwei Handlungsstränge etabliert hatten.

Auf der einen Seite betrieben die Vertreter der politischen Emigration im Ausland seit Kriegsausbruch „Lobbying“ für tschechische nationale Anliegen bei den Westmächten, wobei sich sehr früh die Option eines unabhängigen Nationalstaates herauskristallisiert hatte. Die Zuspitzung dieser Politik erfolgte am 26. September 1918, als sich im Exil ein Tschechoslowakischer Nationalrat (Československá národní rada) konstituierte und einen selbständigen tschechoslowakischen Staat proklamierte, der kurz darauf von den Westmächten als alliierte kriegsbeteiligte Nation anerkannt wurde.

Die im Inland verbliebenen tschechischen politischen Repräsentanten, die im Nationalausschuss des Reichsrats organisiert waren, scheuten lange Zeit vor dem gänzlichen Austritt aus der Habsburgermonarchie zurück. Es wurde eine föderalistische Lösung bevorzugt, und die pro-österreichische Linie des sogenannten Aktivismus blieb lange Zeit eine reale Alternative.

Angesichts des Festhaltens Wiens am Status quo kam es zu einem spürbaren Wechsel in der Haltung der tschechischen politischen Szene. Binnen weniger Wochen schwenkten sämtliche politische Parteien auf eine anti-österreichische Haltung ein. Die Emigration übernahm die politische Führerschaft. Angesichts der bevorstehenden Kapitulation Österreich-Ungarns überstürzten sich die Ereignisse, und in Prag wurden am 28. Oktober durch die Ausrufung der Unabhängigkeit kurzerhand vollendete Tatsachen geschaffen. Am 30. Oktober wurde die Gründung der Tschechoslowakei von slowakischen Repräsentanten, die zuvor nur peripher eingebunden waren, in der Deklaration von Svätý Martin bestätigt.

Ähnlich verlief die Entwicklung bei den südslawischen Nationalitäten des Habsburgerreiches, wobei hier in den unterschiedlichen Vorstellungen über eine vereinte Existenz – vor allem in Hinblick auf den serbischen Führungsanspruch – ein zusätzliches Hindernis bestand. Angesichts der weiterhin kompromisslosen Haltung der österreichischen und ungarischen Regierung konstituierten sich am 6. Oktober 1918 die südslawischen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats und des ungarischen Reichstages in Zagreb als Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben und beanspruchten die Vertretung aller Südslawen innerhalb der Habsburgermonarchie. Im Zuge der fortschreitenden Auflösung des Reiches erfolgte schließlich die Zustimmung zur Bildung eines Einheitsstaates unter serbischer Führung, die am 1. Dezember 1918 in der Ausrufung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) ihren Abschluss fand.

Eine besondere Situation herrschte bei den Polen: Dass die Existenz eines polnischen Staates Teil der Nachkriegsordnung sein werde, wurde von allen Seiten anerkannt – nur gab es unterschiedliche Auffassungen über den Umfang und den Grad der Selbständigkeit. Die polnischen Interessen wurden von unterschiedlichen nationalen Vertretungen verteidigt. Das Polnische Nationalkomitee im Pariser Exil war inzwischen von den Westmächten als Regierungsautorität einer kriegsführenden Nation anerkannt worden. In der Heimat versuchte der unter der Kontrolle der Mittelmächte stehende Polnische Regentschaftsrat die Pläne für ein selbständiges Polen voranzutreiben. Die Koordination der Vorgangsweise war schwierig: Als am 7. Oktober 1918 der polnische Staat ausgerufen wurde, bildeten sich in der Folge drei Regierungen (Warschau, Lublin, Krakau). Im November wurde schließlich die Warschauer Regierung unter Józef Piłsudski allgemein anerkannt.

Bibliografie 

Bihl, Wolfdieter: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien/Köln/Weimar 2010

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. (3. Auflage), Stuttgart 1998

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013

Štih, Peter/Simoniti, Vasko/Vodopivec, Peter: Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Entwicklung

    Nationale Standpunkte zum Krieg

    Die Habsburgermonarchie als staatlicher Rahmen für die kleineren Nationalitäten Zentraleuropas wurde bis 1914 kaum ernsthaft in Frage gestellt, weder von innen noch von außen. Bei Ausbruch des Krieges betonten die Vertreter der Nationalitäten zunächst ihre Loyalität zu den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.