Ein Marxist am Ballhausplatz – Otto Bauer übernimmt die Außenpolitik

In der Führung der Außenpolitik Österreichs, die bislang in der Hand des Kaisers und des Hochadels gelegen war, vollzog sich im November 1918 ein radikaler Wandel. Der Sozialdemokrat Otto Bauer übernahm als Staatssekretär das Staatsamt für Äußeres.

Da die Ministerien der Monarchie weiter bestehen blieben – das Außenministerium als liquidierendes Ministerium unter Ludwig Freiherr von Flotow bis 1920 – wurde zuerst Victor Adler und in Nachfolge Otto Bauer aus Unterscheidungsgründen zum Staatssekretär für Äußeres ernannt. Im Amt blieb vorerst ebenfalls weitgehend das Personal aus der Monarchie, auch wenn sich zahlreiche Diplomaten aus dem höheren Adel gekränkt in den Ruhestand verabschiedeten, was dem Betreiben von Flotows zugeschrieben wird. Otto Bauer besetzte Schlüsselpositionen mit Vertrauenspersonen, die er teils aus der Sozialdemokratie, aber auch aus anderen Kreisen rekrutierte, wie beispielsweise den Verfassungsexperten Hans Kelsen, den er aus seiner Studienzeit kannte, und den Wirtschaftsexperten Richard Schüller, der als Leiter der Wirtschaftssektion im Außenministerium allen Regierungen bis 1938 mit seiner Fachkompetenz zur Verfügung stand.

In den Verhandlungen mit der Entente befand sich Bauer in einer schwierigen Situation, da diese den neugegründeten Staat Deutschösterreich nicht anerkannte. Aber auch die personelle Kontinuität im Staatsamt sollte sich als Hindernis herausstellen, denn die Diplomaten standen symbolisch für die Monarchie und für die Kontinuität des vormals kriegsführenden Staates. Bauer vermerkte dazu: „Ich habe immer Bedenken, das alte diplomatische Personal zu verwenden, weil wir dann als Fortsetzung der alten Monarchie erscheinen würden und Herren, die hierfür geeignet sind, sind nicht leicht zu finden. Man holt sich, wenn man einmal jemanden gefunden zu haben glaubt, gewöhnlich einen Korb.

Bauer ließ die ihm durch sein Amt zugänglichen Akten des k. u. k. Ministeriums des Äußeren über den Kriegsbeginn sichten und bewerten. Sein Urteil über die Kriegsschuld fiel eindeutig aus. Er wies Österreich-Ungarn die Hauptverantwortung für das Kriegstreiben zu, was in der Art der Formulierung einen Affront gegenüber dem k. u. k. Ministerium für Äußeres darstellte. Freilich erwähnte er dabei nicht die Mitwirkung der Sozialdemokratie und auch nicht seine eigene Haltung im Jahre 1914, als er als k. u. k. Leutnant der Reserve überzeugt gegen das zaristische Russland in den Krieg zog.

Hans Kelsen legte am 29. November 1918 für Bauer ein Gutachten vor, das die völkerrechtliche Stellung Deutschösterreichs klären sollte. Darin monierte er, dass die neue Republik nicht Rechtsnachfolger der Monarchie und damit auch nicht verantwortlich für die Kriegserklärung sei. Bauer übernahm diese Argumentation in einer „Denkschrift“ Ende Dezember 1918, in der er seine außenpolitischen Grundsätze skizzierte. Dass Bauers Denkschrift jeden klassenkämpferischen Unterton vermied, half letztlich nicht. Auch die österreichische Verhandlungsdelegation setzte in Saint-Germain auf Kelsens Argumentation, die aber bei den französischen und englischen Politikern auf keine Akzeptanz stieß. Die Entente machte Deutschösterreich für die Kriegserklärung verantwortlich, setzte Reparationszahlungen fest und verhinderte den von Bauer so sehr angestrebten Anschluss. Damit rückte Österreich – vor allem in der Rhetorik der 1930er-Jahre – erstmals in eine Opferrolle – eine Haltung, die es auch nach 1945 wieder einnehmen sollte.

Bibliografie 

Hanisch, Ernst: Im Zeichen von Otto Bauer. Deutschösterreichs Außenpolitik in den Jahren 1918 bis 1919, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang: Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich, Bd. I, Wien 2008, 206-222

Stadler, Karl R.: Die Gründung der Republik, in: Skalnik, Kurt: Auf der Suche nach der Identität, in: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt: Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, 55-84

 

Zitate:

„Ich habe immer Bedenken ...": zitiert nach Hanisch, Ernst: Im Zeichen von Otto Bauer. Deutschösterreichs Außenpolitik in den Jahren 1918 bis 1919, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang: Das Werden der Ersten Republik. ... der Rest ist Österreich, Bd. I, Wien 2008, 206-222, hier 210

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.