Tirol sollte ungeteilt bei Deutschösterreich bleiben – das war eines der wichtigsten Anliegen der österreichischen Delegation bei den Friedenskonferenzen im Frühjahr 1919.
Obwohl dem italienischen Königreich bereits im Londoner Vertrag vom 26. April 1915 die Brennergrenze versprochen und diese im Waffenstillstand von Villa Giusti am 3. November 1918 nochmals bestätigt worden war, erwarteten sich die österreichischen Verhandler für Südtirol dennoch gewisse Zugeständnisse. Man vertraute dabei vor allem auf das von Woodrow Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker und hoffte, dieses auch nach einer Volksabstimmung für die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols in Anspruch nehmen zu können.
Auch der seit 4. November 1918 bestehende Südtiroler Nationalrat, der sich als eine Art regionale Regierung verstand, votierte für die Einheit Südtirols mit Tirol bzw. Deutschösterreich. Als mögliche Alternativen wurden jedoch sowohl die Angliederung an die Schweiz als auch die Selbstständigkeit Südtirols formuliert.
Das von Deutschösterreich am 22. November 1918 gesetzlich beanspruchte Gebiet umfasste neben dem heutigen Bundesland Tirol und der italienischen Provinz Bozen/Bolzano auch die Bezirke Hayden/Ampezzo, Buchenstein/Livinalolongo und Cavalese.
Italiens Verhandler argumentierten mit der geographischen und wirtschaftlichen Verbundenheit des Territoriums sowie mit der strategisch bedeutsamen Brennergrenze. Die Tatsache, dass die neu gegründete Republik Deutschösterreich den Anschluss an das Deutsche Reich beschlossen hatte – dieser aber von den Alliierten verboten wurde –, unterstützte die Argumentation Italiens. Bei einer Verwirklichung des Anschlusses hätte die Grenze des Deutschen Reiches bis zu den Dolomiten gereicht, was einen erheblichen Machtzuwachs bedeutet hätte.
Bereits im April 1919 sprach sich Woodrow Wilson offiziell für den Verbleib Südtirols bei Italien aus, woraufhin die Tiroler Landesversammlung am 4. Mai 1919 die Selbstständigkeit Tirols verkündete. Die Verlautbarung der Unabhängigkeit Tirols und der Bildung eines neutralen Freistaates von Kufstein bis Salurn/Salorno blieb jedoch aufgrund der ausbleibenden Zustimmung der Alliierten und damit Italiens folgenlos.
Schließlich sprachen die Alliierten im Vertrag von Saint-Germain am 10. September 1919 die südlichen Teile des ehemaligen habsburgischen Kronlandes Tirol dem Königreich Italien zu. Der Südtiroler Abgeordnete Reut-Nicolussi hatte darauf jedoch nur eine Antwort: „Gegenüber diesem Vertrage haben wir mit jeder Fiber unseres Herzens, in Zorn und Schmerz nur ein Nein! Ein ewiges, unwiderrufliches Nein!“
Südtirol wurde letztendlich – ohne Volksabstimmung und gegen den Wunsch seiner mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung – am 10. Oktober 1920 formell an Italien abgetreten.
Goldinger, Walter/Binder, Dieter A.: Geschichte der Republik Österreich 1918-1938, München 1992
Hanisch, Ernst: Österreichische Geschichte 1890-1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994
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Zitate:
„Gegenüber diesem Vertrage ...“: Reut-Nicolussi, zitiert nach: Hanisch, Ernst: Österreichische Geschichte 1890-1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 272
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Kapitel
- Der hohe Preis des Friedens
- Die Spaltung Tirols
- Der Gewinn des Burgenlandes
- Der Kärntner Abwehrkampf und die Volksabstimmung am 10. Oktober 1920
- Der Verlust der Südsteiermark
- Die Festsetzung der Nordgrenze
- Österreichisches Bundesland oder Schweizer Kanton?
- Anschlussbestrebungen in Österreich von der Republikgründung bis zu den Volksabstimmungen in Tirol und Salzburg 1921