Die Festsetzung der Nordgrenze

Grenzkonflikte in Ober- und Niederösterreich und die Sudetendeutsche Frage

Eines der wichtigsten Anliegen, mit dem die deutschösterreichischen Delegierten zur Friedenskonferenz nach Paris aufbrachen, war die Eingliederung des deutschen Siedlungsgebiets der Sudetenländer in die neu gegründete Republik Deutschösterreich.

Nach dem am 22. November 1918 verabschiedeten Gesetz über die Grenzen der Republik Deutschösterreich sollten diese Österreich unter der Enns (Niederösterreich) mit dem Kreis Deutsch-Südmähren und der Region um Neubistritz, Österreich ob der Enns (Oberösterreich) mit dem Kreis Deutsch-Südböhmen sowie Deutschböhmen, das Sudetenland und die deutschsprachigen Gebiete von Brünn/Brno, Iglau/Jihlava und Olmütz/Olomouc umschließen. Letztere Territorien wurden jedoch auch von der am 28. Oktober 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik beansprucht, die sich auf die historischen Grenzen Böhmens, Mährens und Schlesiens berief und wirtschaftliche sowie verkehrstechnische Argumente vorbrachte. Deutschösterreich verwies hingegen auf das Selbstbestimmungsrecht der deutschsprachigen Bevölkerung.

Die tschechoslowakische Regierung versuchte durch die Besetzung der geforderten deutschen Gebiete vollendete Tatsachen zu schaffen. Sie stieß nur auf geringen Widerstand, da die Wiener Regierung dazu anhielt, militärische Auseinandersetzungen zu vermeiden und die Lösung der Grenzkonflikte den Friedensverhandlungen in Paris überließ. Der damalige Unterstaatssekretär für Heerwesen, Julius Deutsch, beschrieb die militärpolitische Lage folgendermaßen: „[…] kein noch so glänzender militärischer Sieg hätte ja den Verdammnisspruch der Entente zu wenden vermocht. Alles was wir tun konnten, war, in Paris und London unsere Sachen zu verfechten. […] der Kampf war an dem Tag entschieden, an dem die Tschechen entschlossen nach ihrer Beute griffen […].

In Paris erklärte der tschechische Außenminister Edvard Beneš gegenüber den alliierten Vertretern, dass die beanspruchten Territorien keine rein deutschen Bezirke umfassten und mehrheitlich von einer gemischtsprachigen Bevölkerung besiedelt seien. Zudem bediente er sich historischer, wirtschaftlicher und strategischer Argumente, wonach eine starke Tschechoslowakei dabei helfen könnte, den deutschen Einfluss in Mitteleuropa einzudämmen.

Der tschechoslowakische Staat konnte vor allem durch die Unterstützung Frankreichs die meisten seiner territorialen Forderungen durchsetzen. Die Friedenskonferenz beschloss, die früheren Verwaltungsgrenzen zwischen Böhmen und Mähren und den österreichischen Ländern als Grenze der Tschechoslowakischen Republik festzulegen, womit drei Millionen Deutschsprachige zur Tschechoslowakei kamen. Die Proteste der deutschösterreichischen Regierung sowie der Sudetendeutschen blieben genauso ungehört wie die Forderung nach einer Volksabstimmung. Aufgrund verkehrstechnischer Überlegungen wurden die historischen Grenzen zuungunsten Deutschösterreichs noch erweitert. Im Raum um Gmünd und Weitra mussten einige Gemeinden an die Tschechoslowakei abgetreten werden und auch im March-Thaya-Dreieck wurden Grenzkorrekturen vorgenommen. Die Tatsache, dass tschechoslowakische Truppen aufseiten der Entente gekämpft hatten und die Ansprüche des Landes nicht mit den Interessen der Siegerstaaten konfligierten, war für die Entscheidung ausschlaggebend. Im Falle der böhmischen Länder beriefen sich die Alliierten also nicht auf ethnische Argumente, sondern auf wirtschaftliche und verkehrstechnische Erwägungen. Das Prinzip der historischen Einheit erhielt gegenüber der nationalen Selbstbestimmung letztendlich den Vorrang.

Bibliografie 

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Zitate:

„[…] kein noch so glänzender ...“: Deutsch, Julius: Aus Österreichs Revolution. Militärpolitische Erinnerungen, Wien ohne Jahr (1921), 67f. zitiert nach: Hummelberger, Walter: Die niederösterreichisch-tschechoslowakische Grenzfrage 1918/19, in: Ackerl, Isabella/Neck, Rudolf (Hrsg.): Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, Wien 1989, 95

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

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    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.