Der Weg an die Front

Zu einer der ersten prägenden Erfahrungen der eingezogenen Männer zählte das Abschiednehmen von den Familien und Angehörigen auf den heimatlichen Bahnhöfen der Monarchie.
 

Zahlreiche Fotografien sind uns heute überliefert, auf denen die Betrachterin oder der Betrachter immer wiederkehrende Motive findet. Sie handeln von den ausziehenden Soldaten, die mit lächelnden, mitunter auch ernsten Gesichtern aus den Fenstern der Eisenbahn-Waggons in die Kamera oder zu jenen Menschenansammlungen blicken, die sich zu ihrer Verabschiedung und Ausrückung an den Bahnhöfen eingefunden haben. ‚Jubelnde Gesten‘, Blumen, Essen, Trinken und kleine Geschenke dominierten das sogenannte „Bahnhofserlebnis“ zu Kriegsbeginn, das, wie der Historiker Oswald Überegger betont, „der Bevölkerung als begeistertes Abschiedsszenario in Erinnerung blieb und in Erinnerung bleiben sollte“.

Abseits dieses öffentlichen und propagandistisch transportierten Stimmungsbildes waren die Gemüts- und Gefühlslagen der sich auf dem Weg an die Front befindlichen Soldaten natürlich komplexer. Zwar wurden nicht wenige vom öffentlichen Jubel und der, wie Überegger das nennt, „Bahnhofshysterie“ angesteckt und mitgerissen, doch bei vielen riefen der Abschied von den Lieben zu Hause und die ungewisse Zukunft ebenso trübe und negative Gedanken hervor, wie die Angst vor dem unbekannten Krieg und dem zu Erwartenden.

Alltags-, erfahrungs- und regionalgeschichtliche Forschungen konnten zeigen, dass die vielfach propagierte und auch von Historikerinnen und Historikern lange unkritisch übernommene schichtübergreifende ‚Kriegsbegeisterung‘ der Bevölkerung im Sommer 1914 differenzierter zu betrachten ist. Der Kriegsbeginn war vielmehr, so wiederum Oswald Überegger, von einer „Koexistenz von Kriegsbegeisterung und nicht-kriegsaffirmativen Deutungsmustern“ gekennzeichnet, „zwischen welchen Extremen aber ein breites Spektrum von Weder-noch-Handlungsmustern überwogen, die sich am besten mit den Begriffen ‚Kriegsbereitschaft‘, ‚Kriegsergebenheit‘ oder ‚Pflichterfüllung‘ umschreiben lassen“.

Wie unterschiedlich sich die Ereignisse und Erfahrungen rund um das Einrücken in die Narrative der Soldaten einschrieben, lässt sich beispielsweise an den Erzählungen eines Tiroler Kaiserjägers und eines Trentiner Bauern beobachten. Sie schilderten die Verabschiedung am Bahnhof und den bevorstehenden Weg an die Front höchst unterschiedlich. So notierte der Tiroler Kaiserjäger Matthias Ladurner-Parthanes in sein Tagebuch: „In jedem Bahnhof gab es ein Winken und Schreien, Händedrücken, auch zum Essen und Trinken wurde gebracht; besonders von letzterem wurde ausgiebig Gebrauch gemacht, so dass ein Stück außerhalb der letzten Station die des Guten zu viel getan hatten, den heiligen Ulrich als Patron gegen Magenkrämpfe angerufen haben.“

Anders liest sich der Tagebucheintrag des Trentiner Bauern Giovanni Zontini, der weniger von der allgemeinen Euphorie als von der drohenden Ungewissheit der eigenen Zukunft handelte: „Der Zug war mit Blumen, Laub und Fahnen geschmückt, aber die Gedanken waren ernst, der Tod schien nicht weit entfernt zu sein. Die Lieder waren traurig, traurig wie die Vögel auf dem Schnee.“

 

 

Bibliografie 

Heiss, Hans: Andere Fronten. Volksstimmung und Volkserfahrung in Tirol während des Ersten Weltkrieges, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck/Wien 1995

Rauchensteiner, Manfried: Kriegermentalitäten. Mistzellen aus Österreich-Ungarns letztem Krieg, in: Dornik, Wolfram/Walleczek-Fritz, Julia/Wedrac, Stefan (Hrsg.): Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2014

Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002

 

Zitate:

„der Bevölkerung als begeistertes ...“: Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, 259

„Bahnhofshysterie“: Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, 259

„Koexistenz von Kriegsbegeisterung ...“: Überegger, Oswald: Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002, 258

„In jedem Bahnhof gab es ...“: Matthias Ladurner-Parthanes, zitiert nach: Rauchensteiner, Manfried: Kriegermentalitäten. Mistzellen aus Österreich-Ungarns letztem Krieg, in: Dornik, Wolfram/Walleczek-Fritz, Julia/Wedrac, Stefan (Hrsg.): Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2014, 52

„Der Zug war mit Blumen ...“: Giovanni Zontini, zitiert nach: Heiss, Hans: Andere Fronten. Volksstimmung und Volkserfahrung in Tirol während des Ersten Weltkrieges, in: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.): Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck/Wien 1995, 145

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Der industrialisierte Krieg

    Der Erste Weltkrieg war ein Krieg des enormen Materialeinsatzes. Die Armeen mit ihren Massenheeren mussten ausgerüstet und versorgt werden. Die Materialschlachten wären ohne die großindustrielle Herstellung von Waffen und anderen kriegsnotwendigen Produkten unmöglich gewesen. Nur durch die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen konnte die riesige Kriegsmaschinerie aufrechterhalten werden.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Das „Ich“ im Krieg

    Lange Zeit wurde der Erste Weltkrieg nur aus dem Blickwinkel öffentlicher Persönlichkeiten oder Generäle erzählt. Wie die Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erlebte und überlebte, blieb hingegen im Dunkel der Geschichte verborgen. Gerade sogenannte „Ego-Dokumente“ - wie dieses Tagebuch - geben uns jedoch neue und vielfältige Einblicke in die individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Sinndeutungen der Menschen im Krieg.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?