Flugblätter im Ersten Weltkrieg

Erst in der zweiten Kriegshälfte wurden Flugblätter als wirksames Instrument der psychologischen Kriegsführung erkannt. Die meist einseitigen Druckschriften wurden in abenteuerlichen Aktionen über der Front abgeworfen, um die gegnerischen Truppen moralisch zu destabilisieren.

Während des Krieges wurden Flugblätter zu Hunderttausenden verteilt, um politische Botschaften unter der eigenen Bevölkerung, vorrangig aber unter den feindlichen Soldaten zu verbreiten. Schlagkraft und Aktualität, rasche Verständlichkeit und eine eindeutige Intention machten sie zu einem bewährten Instrument. England und Frankreich setzten Flugblätter sehr aktiv ein; allein in Großbritannien wurden bis Kriegsende über 21 Millionen Stück gedruckt und verbreitet. Mithilfe von Flugzeugen, Ballons, Luftschiffen und Kanonen wurden sie über den gegnerischen Linien abgeworfen.

Zielsetzung der Flugblätter war es, Informationen breitenwirksam zu streuen, über den Stand der Dinge zu berichten und Gerüchte zu schüren. Dabei setzte die Flugblattpropaganda auf die ‚Wahrheit’ als stärkste Waffe im Krieg. Tatsächlich arbeitete sie aber mit Verzerrung, Auslassung und Übertreibung und gab im Kampf um die Meinungen selektierte Informationen wieder.

Darüber hinaus wurden Flugblätter eingesetzt, um die gegnerische Bevölkerung und die feindlichen Soldaten zu demoralisieren. Sie forderten die gegnerischen Soldaten zum Überlaufen auf, indem sie eine gute Behandlung und Verpflegung in Kriegsgefangenschaft versprachen. Exemplarisch kann dafür der Text eines britischen Flugblattes gelesen werden: „[…] Glaubt den Herren nicht, die Euch erzählen, daß Ihr in Gefangenschaft schlecht behandelt werdet; im Gegenteil, wir können euch versichern, daß wir in einem Tag mehr zu essen kriegen wie bei den Blutsaugern da drüben in dreien. […]“
Dann folgte eine direkte Aufforderung zu desertieren:
„Und dann, einen guten Rat! Es ist so leicht, sich auf Batrouille oder beim Essenholen zu verlaufen; es ist jetzt leichter wie je. Uns sind die Augen geöffnet worden in der kurzen Zeit, in der wir hier sind.“

Die Flugblätter waren psychologisch durchdacht und unterstützten trickreich die Infiltration des Feindes. Eine besonders starke Wirkung erzielten faksimilierte Briefe und Postkarten, die häufig vom Original kaum zu unterscheiden waren und aufgrund ihrer vermeintlichen Authentizität nicht als Propaganda erkannt wurden. Diese fingierten Schreiben berichteten ebenfalls von den positiven Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft und ermutigten ihre Leserschaft zu desertieren.

Gelegenheitsflugblätter waren von der aktuellen Kriegslage unabhängig und wurden aus diesem Grund in hoher Auflagezahl gedruckt und verbreitet. Oftmals als Zeitungen getarnt enthielten sie ausführliche Artikel und vermittelten den Eindruck, wertungsfrei zu berichten. Auch ihr Ziel war es, Furcht und Zweifel in den feindlichen Truppen zu nähren.

Eilflugblätter erzielten durch ihre Aktualität größtmögliche Wirkung. Sie zeigten häufig Karten mit aktuellen Frontlinien und enthielten neueste Informationen. Auch dies sollte die Moral des Feindes untergraben, Misstrauen schüren und möglichst einen Keil zwischen Soldaten und Offiziere treiben.

Als Propagandamedium gelang es den Flugblättern durchaus, Zweifel unter den Soldaten darüber zu verbreiten, welchen Informationen sie trauen konnten. Dadurch eröffneten oder vergrößerten sie das Spannungsfeld zwischen Loyalität und Misstrauen in den gegnerischen Truppen.

Bibliografie 

Brunner, Frederike Maria: Die deutschsprachige Flugblatt- und Plakatpropaganda der österreichisch-ungarischen Monarchie im Ersten Weltkrieg 1914-1918, unveröffentlichte Dissertation, Wien 1971

Gering, Matthias, Kriegsflugblätter als Propagandamedium, in: Zühlke, Raoul, Bildpropaganda im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2000, 213-238

Kirchner, Klaus: Flugblattpropaganda im 1. Weltkrieg. Bd. I. Flugblätter aus England 1914-1918, Erlangen 1985

Zitate:

„[…] Glaubt den Herren nicht,...“: englisches Kriegsflugblatt, „Aus der Kriegsgefangenschaft“, Codezeichen A.P.66., Österreichische Nationalbibliothek

„Und dann, einen guten Rat!...“: englisches Kriegsflugblatt, „Aus der Kriegsgefangenschaft“, Codezeichen A.P.66., Österreichische Nationalbibliothek

 

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

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Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Auf der (Fahnen)Flucht

    Desertion war ein Phänomen, das die Armeen im Ersten Weltkrieg alle vier Jahre lang begleitete – so auch die multinationale Habsburgerarmee. Diese amtliche Kundmachung aus dem Jahr 1915 thematisiert in drei Sprachen (Ungarisch, Deutsch und Serbisch) Fälle von Desertion durch Kriegsgefangene und deren „absichtliche“ Unterstützung durch die heimische Zivilbevölkerung. Diese wird – als „Verbrechen gegen Heereslieferungen“ – unter „unerbittlich[e]“ Bestrafung gestellt