Von der „Ansicht“ zur Narration: Genres und Stars

Für die Wirkungsästhetik der frühen Filmpräsentationen hat der amerikanische Filmhistoriker Tom Gunning den Begriff „Kino der Attraktionen“ geprägt. Statt zu erzählen, wie es später üblich war, stellte man das Gezeigte zur Schau.

In der Frühphase des Kinos fehlte den Aufnahmen (auch „Ansichten“ oder „vues“ genannt) eine zusammenhängende Erzählung. Einzelne Episoden wurden ohne narrative Abfolge aneinandergereiht. Man zeigte, beobachtete, erforschte das Ersichtliche, ohne eine eindeutige Interpretation und Argumentation einzubringen. Auch mangelte es dem „Kino der Attraktionen“ an Figuren, die eine psychologische Motivation oder eine individuelle Persönlichkeit aufwiesen. Die Kürze der Filme ließ eine derartige Entwicklung der Charaktere auch gar nicht zu. Man setzte auf knapp pointierte Situationen mit oftmals humoristischen Inhalten. Der unmittelbare Effekt stand im Zentrum. Da Schnitt- und Montagetechniken noch nicht entwickelt waren und es auch oft an Zwischentiteln fehlte, blieb eine kreative Gestaltung und gezielte Dramatisierung des Materials aus. In der Abfolge der Einzelstreifen und in den Begleitattraktionen (Musik, Artisten, Erzähler etc.) lag der Reiz der Inszenierung.

Nach und nach nahm die Laufzeit der Filme zu: Um 1907 wiesen die im Kino vorgeführten Filme eine durchschnittliche Länge von sechs Minuten auf. 1909 lag die Projektionszeit bei vielen Filmen bereits bei über 20 Minuten. Parallel vergrößerte sich der Anteil der fiktionalen Filme, ab 1906 machten sie zwei Drittel des Angebots aus. Sämtliche anerkannte Hersteller boten nun keine „Bilder“ mehr an, sondern offerierten Dramen, Komödien, Lustspiele oder Tragödien und orientierten sich folglich an klassischen Kategorien. Um 1910 hatte sich der Langfilm mit einer durchschnittlichen Dauer von rund einer Stunde schließlich durchgesetzt. Neue erzähltechnische Strategien, die sich an die antiken Dramen der Drei- und Fünfakterschemata anlehnten, wurden entwickelt. Komplexere Handlungsstränge waren zusehends üblich, einzelne Figuren bekamen mehr Tiefe, der Star-Film war im Kommen. Anfang 1911 begeisterte der Streifen „Abgründe“ mit Asta Nielsen Publikum und Kritiker gleichermaßen. Fortan wurde die Darstellerin systematisch vermarktet, jede Premiere eines ihrer Filme zum Medienereignis hochstilisiert.

Doch auch Österreich-Ungarn hatte seine ersten Filmstars aufzuweisen: Mia May, Ehefrau des österreichischen Regisseurs Joe May, wurde eine der ersten Diven des deutschen Films. Liane Haid debütierte im Kriegspropagandafilm „Mit Herz und Hand fürs Vaterland“ (A 1915) und avancierte zu einem der großen österreichischen Stars der Stummfilmzeit. Sie konnte ihre Karriere letztlich auch im Tonfilm fortsetzen. Aufseiten der männlichen Darsteller wären etwa Rudolf Walter und Josef Holub zu nennen, die als das legendäre österreichische Komikerduo „Cocl & Seff“ die 1910er und 1920er Jahre prägten. Ihre Lustspiele zählten zu den Kassenschlagern dieser Periode. In ihrem ersten gemeinsamen Film „Der Bauernschreck“ (A 1913) spielen sie zwei soziale Außenseiter. In ein gestohlenes Bärenfell gehüllt ängstigen sie die Bewohner eines Dorfes und erhalten nach dem „Bezwingen der Bestie“ eine gut dotierte Belohnung.

Bibliografie 

Gunning, Tom: Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der „Ansicht“, in: KINtop 4, Anfänge des dokumentarischen Films, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, Basel/Frankfurt am Main 1995, 111-121

Krenn, Günter/Wostry, Nikolaus (Hrsg.): Cocl & Seff. Die österreichischen Serienkomiker der Stummfilmzeit, Wien 2010

Müller, Corinna: Variationen des Filmprogramms. Filmform und Filmgeschichte, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm (1905/6–1918), München 1998, 43-75

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