„Nummernprogramme“ – Kleinode aus aller Welt

Das dem Schaustellergewerbe entsprechende „Prinzip der Attraktion“ fand seine Analogie in der Filmauswahl. Nach dem Vorbild der Varietés enthielten Kinoprogramme meist rund zehn bis fünfzehn Filme, sogenannte „Nummern“. Ein attraktives Kurzfilmprogramm sollte das Publikum anlocken.

Die präsentierten Streifen waren sehr kurz (manchmal weniger als eine Minute lang) und waren fast ausschließlich in einer einzigen Einstellung gedreht. Sie wurden effektvoll und kurzweilig arrangiert. Wiederholungen und Gleichartigkeit sollten vermieden werden, vielmehr war man bestrebt, Kontraste zu bieten. In den dargebotenen Nummernprogrammen wechselten die Wanderkinounternehmer Aktualitäten mit technischen, naturwissenschaftlichen Aufnahmen, Reise- und Landschaftsbildern oder „komisch-pikanten“ Filmen geschickt ab. Bei der Gestaltung der Filme und deren öffentlicher Inszenierung orientierten sich die Filmpioniere und Schausteller durchwegs an bereits etablierten Medien wie illustrierten Magazinen, Romanheften, Bildgeschichten, Postkarten, dem populären Theater, den Kaiserpanoramen und der Projektionskunst.

In der Frühzeit der Kinematographie bestimmten non-fiction-Filme das Wanderkinoprogramm. Dabei waren zwei Formen, die unter dem zeitgenössischem Begriff „Naturaufnahmen“ subsumiert wurden, am häufigsten vertreten: Reisebilder, die Städte, Landschaften und exotische Gebräuche in den Fokus nahmen, und Industriebilder, die Warenfertigungs- und Arbeitsprozesse veranschaulichten. Diese frühen Filme waren von einer offensichtlichen voyeuristisch-exhibitionistischen Übereinkunft getragen. Das Beobachten wie auch das Zurschaustellen sind am Filmmaterial klar nachvollziehbar. Landschaften werden von erhöhten Standpunkten überblickt oder mit der Kamera abgeschwenkt. Nah- und Detailaufnahmen machen Arbeitsvorgänge genau nachvollziehbar. Werktätige oder Passanten werden abgelichtet, während sie sich vor der Kamera inszenieren, Blicke austauschen, den Akt des Gefilmt-Werdens fortlaufend thematisieren und bildlich umsetzen.

Reisebilder erfreuten sich besonderer Popularität und offerierten ein ansprechendes Potpourri an Sehenswürdigkeiten, wie Parkanlagen, pittoreske Landschaften, Denkmäler, prunkvolle Gebäude, Stadtpanoramen, Jahrmarkteindrücke, exotische Tiere, fremde Sitten und Brauchtum. Allgemeine Gesamtansichten wechselten zu belebten Straßen oder optisch interessanten Bauwerken. Auch die Residenzstadt Wien wurde von Anbeginn der Kinematographie besonders gerne abgelichtet und in das Wanderkinoprogramm aufgenommen. Der Film „Le Ring“ aus dem Jahr 1896 präsentiert das rege Treiben an der Sirk-Ecke. Die Kamera ist ebenerdig gegenüber der Oper mit Einblick in die Kärntnerstraße platziert. Die „Ansicht“ zeugt von einer speziellen Attraktivität. Der schräg angeschnittene Blickwinkel unterstreicht die Staffelungen des Bildes durch Laternenmasten und seitlich hervorspringende Häuserblöcke, die Raumtiefe vermitteln. Direkt auf das Objektiv zusteuernde oder knapp passierende Personen und Fuhrwerke erzeugen ein Gefühl der unmittelbaren Anwesenheit. Die Kamera ist stellvertretend für den Zuschauer direkt im Geschehen, in beobachtender Position.

Bibliografie 

Garncarz, Joseph: Der nicht-fiktionale Film im Programm der Wanderkinos, in: Jung, Uli/Loiperdinger, Martin (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Band 1, Kaiserreich 1895–1918, Stuttgart 2005, 108-119

Müller, Corinna: Variationen des Filmprogramms. Filmform und Filmgeschichte, in: Müller, Corinna/Segeberg, Harro (Hrsg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm (1905/6–1918), München 1998, 43-75

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