Der erste Kinematograph in Wien – ein Medium erobert Österreich-Ungarn

Nachdem die Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 am Boulevard des Capucines in Paris die kinematographische Technik erstmals in einem öffentlich-kommerziellen Rahmen vorgeführt hatten, folgten im Februar des Folgejahres Präsentationen in London, Bordeaux und Brüssel. Am 20. März 1896 wurden die „lebenden Photographien“ schließlich auch in Wien vorgestellt.

Erste private Vorführungen des „Cinématographe“ fanden in der k. k. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt statt. Die öffentliche Premiere vollzog sich am gleichen Tag im ersten Wiener Gemeindebezirk, Kärntner Straße 45/Ecke Krugerstraße. Für 50 Kreuzer wurde ein Nonstopprogramm „Lebender Photographien“ von 10 Uhr früh bis 8 Uhr abends geboten. Der Höhepunkt jeder Vorstellung war die Einfahrt des immer näher kommenden und größer werdenden Zuges. Die Szene wurde wiederholt von stürmischem Beifall begleitet. Bis Ende 1896 wurde der Kinematograph der Brüder Lumière in allen großen Städten der Monarchie in Wanderkinounternehmungen vorgestellt.

Um das Interesse am Kinematographen zu erhöhen, wurden vor Ort Lokalaufnahmen gedreht und von den Schaustellern in das Standardprogramm aufgenommen. Auf diese Weise konnte der ansässigen Bevölkerung das „reale, lebende Abbild“ der eigenen Umgebung anschaulich präsentiert werden. Im April 1896 trafen daher im Auftrag der Lumièrschen Kinematographenbetriebe der Operateur Alexander Promio mit seinem Gehilfen und Dolmetscher Alexander Werschinger in Wien ein, um folgende Aufnahmen auf Zelluloid zu bannen: „Der Stephansdom“, „Der Stadtpark“, „Der Türkenschanzpark“, „Der Volksprater“, „Der Prater“, „Die Hauptallee“, „Ausfahrt der Wiener Fiaker“, „Korso der Spaziergänger“, „Die Deutschmeisterkapelle“ und „Das Riesenrad“. Diese Filme wurden am 18. April 1896 Kaiser Franz Joseph in der Wiener Hofburg vorgeführt. Alexander Werschinger berichtete darüber: „Wir hatten in der Burg, wie das Schloss genannt wird, einen kleinen Saal im zweiten Stock zur Verfügung. Dort konnten wir zwei Tage vorher proben. Die ganze Vorführung durfte nicht länger als fünf Minuten dauern, da man fürchtete, dass das Flimmern der Bilder den Augen seiner Majestät schaden könnte. Es war auch sehr schwierig, dem Hofbeamten zu erklären, dass während der Demonstration kein Licht brennen durfte. Er erklärte dies für unmöglich, denn es sei Vorschrift des höfischen Zeremonielles, dass der Anwesenheit Sr. Majestät stets mindestens zwei Leuchter mit Kerzen brennen müssten. Alles war erstaunt, als der Kaiser, nachdem er die Bilder gesehen hatte, sehr lebhaft deren zweimalige Wiederholung verlangte und sich sogar mehrere Minuten mit uns in einem vollendeten Französisch unterhielt“.

Kurz nach dieser Begebenheit wurden weitere Aufnahmen von Wien gedreht: „Feuerwehr-Centrale am Hof“, „Das Einspannen“, „Kärntnerstraße“, „Freudenau, Sattelraum nach dem Pisek-Rennen“ und „Verkehr bei dem Cinématographe“. Letztere ist unter dem Titel „Entrée du Cinématographe“ erhalten geblieben und nimmt den Ort der ersten kinematographischen Vorführungen in Wien (Kärntner Straße 45/Ecke Krugerstraße) in Augenschein. Die Aufnahmen sind von der gegenüberliegenden Straßenseite des Vorführlokals aufgenommen. Aufgrund der leichten Querpositionierung der Kamera wird das seitlich montierte Hinweisschild „Photographe, Cinématographe“ fassbar. Die Besucher des Etablissements werden zu kaum bestimmbaren Protagonisten in der Ferne – querende Kutschen verstellen oftmals den Blick. Dominant sind die auf die Kamera zustrebenden Fußgänger – sie drehen sich um, gehen nochmals vorbei, verweilen gebannt für Sekunden vor der technischen Neuheit oder weichen plötzlich wieder zurück. Wer einen Blick in die Kamera wagt, kann sich auf der Leinwand bald selbst wahrnehmen. Die späteren Kinobesucher werden somit Teil der filmischen Inszenierung.

Bibliografie 

Fritz, Walter: Im Kino erlebe ich die Welt. 100 Jahre Kino und Film in Österreich, Wien 1997

Kieninger, Ernst/Rauschgatt, Doris: Die Mobilisierung des Blicks. Eine Ausstellung zur Vor- und Frühgeschichte des Kinos, Wien 1995

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Person

    Franz Joseph

    Franz Joseph war dank seiner langen Regentschaft von 68 Jahren eine prägende Gestalt der Habsburgermonarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens. Er unterzeichnete 1914 die Kriegserklärung an Serbien, die den Ersten Weltkrieg auslöste – ein Krieg, dessen Ende er nicht mehr erleben sollte.