Der Mährische Ausgleich: Ein Lichtschein am Ende des Tunnels?

Der Mährische Ausgleich ist eines der wenigen positiven Beispiele für einen fairen Lösungsansatz im Bereich der Nationalitätenpolitik. Hier war es trotz der verfahrenen Situation im Sprachenstreit zwischen Tschechen und Deutschen gelungen, einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiss zu finden, der eine friktionsfreie Koexistenz erlaubte.

Nach der Eskalation aufgrund der Badenischen Sprachenverordnung von 1897 versuchte sich die Regierung Koerber ab 1900 in vorsichtiger Deeskalation in Böhmen. Versuche, einen Kompromiss zu erzielen, scheiterten erneut an der unversöhnlichen Haltung der deutschen wie tschechischen Politiker.

In Mähren jedoch konnte ein Erfolg erzielt werden. In diesem Kronland lebten die beiden Sprachgruppen geographisch und gesellschaftlich weniger strikt von einander getrennt als in Böhmen, das durch den deutsch-tschechischen Antagonismus völlig gespalten war.

Im Jahr 1905 gelang es einen Kompromiss zu formulieren, der eine beispielhafte Lösung der nationalen Verteilungskämpfe darstellte. Unter der Bezeichnung Mährischer Ausgleich einigte man sich auf eine neue Landesordnung, vor allem im Bezug auf die Organisation der politischen Vertretung im Landtag.

Dank eines neuen Wählerkatasters, der nach nationalen Kurien eingeteilt wurde, war nun eine bestimmte Mandatszahl gemäß einem festgelegten Schlüssel für die jeweilige Nationalität reserviert. Die Wahl von Kandidaten war nur innerhalb der Kurien möglich, sodass Tschechen nur Tschechen und Deutsche nur Deutsche wählen konnten, um eine Überstimmung, wie es in den früheren rein geographisch eingeteilten Wahlsprengeln mit oft gemischtsprachiger Bevölkerung passierte, zu verhindern. Dieser nationale Wählerkataster basierte auf dem Prinzip der Personalautonomie, das vom damaligen sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten und späteren Staatskanzler der Ersten Österreichischen Republik Karl Renner (1870–1950) als Lösungsansatz für den lähmenden Nationalitätenstreit entwickelt worden war.

Auch betreffend die Verwendung der Landessprachen im Behördenverkehr wurde ein dezentralistisches Modell eingeführt. Jeder Selbstverwaltungskörperschaft wurde es freigestellt, eine Geschäftssprache zu wählen, wobei nur festgelegt wurde, dass die Bedürfnisse der jeweiligen Sprachminderheit nicht übergangen werden dürften. Es wurden tschechische, deutsche und gemischtsprachige Bezirke definiert. Bei Postenbesetzungen im öffentlichen Dienst musste die vorherrschende Sprache am Dienstort respektiert und dem lokalen Verhältnis zwischen den Sprachgruppen Rechnung getragen werden. Die Teilung in zwei parallele Sprachsphären wurde auch im Schulsystem durchgesetzt. Schulbezirke wurden nach Sprachen getrennt und im Landesschulrat zwei separate Sektionen für die jeweilige Nationalität eingerichtet.

Die mährische Lösung brachte einen spürbaren Abbau des nationalistischen Extremismus mit sich und galt als erfolgreiches Modell, das 1910 auch für die viersprachige Bukowina angewandt wurde. Ein ähnlicher Ausgleich wurde 1914 auch für Galizien zwischen den Polen und Ruthenen ausverhandelt, jedoch aufgrund des Kriegsausbruchs nicht mehr umgesetzt.

Selbst in Böhmen, wo sich die aufgeheizte Situation langsam beruhigt hatte, nahm man einen neuen Anlauf. Eine paritätisch besetzte tschechisch-deutsche Kommission wurde eingesetzt, die 1912 einem Durchbruch nahe war. Ein zumindest einstweiliger Kompromiss scheiterte jedoch wieder einmal an nationalistischen Extremisten auf beiden Seiten. Durch die veränderten Bedingungen nach dem Kriegsausbruch 1914 wurde hier keine Lösung für die nationale Koexistenz gefunden, was einer der Hauptgründe für den späteren Zerfall der Habsburgermonarchie war. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen blieb auch darüber hinaus belastet.  

Bibliografie 

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815 bis 1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18), Wien 1991

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Nationalitätenpolitik im Vielvölkerreich

    Am Beginn des Zeitalters der Nationswerdung diente das Reich der Habsburger als Treibhaus für die Entwicklung nationaler Konzepte für die Völker Zentraleuropas.  Später wurde der staatliche Rahmen der Doppelmonarchie jedoch immer öfter als Hindernis für eine vollkommene nationale Entfaltung gesehen.