Prag (tschech. Praha), die Hauptstadt des Königreiches Böhmen, war seit jeher eine zweisprachige Stadt, in der Deutsche und Tschechen nebeneinander lebten. Die Geschichte der Stadt war geprägt von der wechselnden Gewichtung der Sprachen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts schlug das Pendel zugunsten der Tschechen aus.

Als Prag in der Biedermeierzeit in das industrielle Zeitalter eintrat, hatte die Stadt einen stark deutschen Charakter. Das Prager Bürgertum tendierte zum Deutschtum, während unter den städtischen Unterschichten das tschechische Element vorherrschte, das zwar zahlenmäßig in der Mehrheit, aber sozial und ökonomisch schwächer gestellt war.

Im 19. Jahrhundert erlebte Prag wie die meisten urbanen Zentren der Monarchie eine Phase enormen Wachstums, wenn auch nicht so extrem wie Wien oder Budapest. Prag hatte um 1910 223.000 Einwohner. Diese Zahl wird der Bedeutung der Stadt aber nicht gerecht, denn rund um sie hatte sich eine Reihe von administrativ eigenständigen Städten gebildet (Smíchov, Vinohrady, Žižkov), sodass die gesamte städtische Agglomeration 617.000 Einwohner zählte und damit nach Wien und Budapest die drittgrößte urbane Siedlung der Monarchie darstellte.

Die Bewohnerschaft rekrutierte sich hauptsächlich aus Zuwanderern aus dem tschechischsprachigen Umland, was die ethnischen Verhältnisse zugunsten der Tschechen veränderte. Lag der Anteil der Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts bei ca. 40 %, so war er bis 1910 auf 6,1 % gesunken.

Damit einher ging eine Veränderung des sozialen Gefüges der Stadt: Mit der erfolgreichen nationalen Emanzipation der Tschechen aus der deutschen kulturellen und ökonomischen Hegemonie bekannte sich nun auch die erstarkende Mittelklasse, etwa Akademiker und Unternehmer,  zur aufstrebenden tschechischen Nation. Prag wurde zum Schauplatz der nationalen Wiedergeburt der Tschechen, die in der Stadt an der Moldau ihr urbanes Zentrum gefunden hatten. Die Prager Deutschen – viele davon mit jüdischem Background – befanden sich trotz der kulturellen Blüte, die sich vor allem auf dem Gebiet der Literatur zeigte (mit Schriftstellern wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel etc.), in der Defensive. 

Ab 1861 herrschte im Prager Gemeinderat eine tschechische Mehrheit. In der Folge nahm das öffentliche Leben der Stadt einen zunehmend tschechischen Charakter an, was sich z. B. auch in der Verwendung des Tschechischen für öffentliche Aufschriften und Straßennamen widerspiegelt, die seit 1894 nur mehr in der tschechischen Form ausgeschildert wurden.

Der Prager Literat deutsch-jüdischer Herkunft Max Brod beschrieb die Schwierigkeiten, „einem Nicht-Prager oder einem, der nicht jahrelang in Prag gelebt hat, die feinen und auch die unfeinen Varianten der Stellungnahme der heißumstrittenen und historisch verwickelten Nationalitätenfrage klarzumachen, in der die Beschriftung jedes Ladenschildes und jeder Straßentafel ein Sprachproblem, ein Politikum wurde.“

Ein sich zunehmend verhärtender „Volkstumskampf“ mobilisierte die Massen, was zu Ausschreitungen und Straßenkämpfen führte. Die nationale Trennung der böhmischen Gesellschaft schien nun endgültig unüberwindlich. Das kulturelle Leben teilte sich streng nach ethnischen Kriterien, selbst in der Wirtschaft etablierten sich national getrennte Kreisläufe als Ergebnis der Nationalisierung des Alltagslebens. Unter dem Schlachtruf „Kauft nur bei Deutschen/Tschechen!“  wurde jede Inanspruchnahme von Dienstleistungen und jeder Einkauf zu einer nationalen Demonstration.

Die gegenseitige Entfremdung entlang der sprachlichen Bruchlinien ließ Parallelwelten entstehen, was den Menschen ein eindeutiges Bekenntnis zu der einen oder anderen Sprachgruppe abverlangte. An Stelle des „sowohl als auch“ war ein „entweder oder“ getreten.

Wie stark das Klima zwischen den beiden Sprachgruppen bereits vergiftet war, zeigte sich in den nationalistischen Agitationen während der Badeni-Krise 1897, als der deutsch-tschechische Antagonismus eskalierte. Die Folge waren Straßenkämpfe, auf die die Staatsmacht mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes über Prag reagierte. 

Bibliografie 

Csáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar 2010

Demetz, Peter: Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt, Zürich 2000

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987

Křen, Jan: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche in den böhmischen Ländern 1780–1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 71), München 1995

Lichtenberger, Elisabeth: Wien – Prag. Metropolenforschung, Wien 1993

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Zitat:

„einem Nicht-Prager ...“: Max Brod: Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz, Frankfurt am Main 1979, 83

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.