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Thema Die Tschechen
Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch
Das Reich der Habsburger wurde von weiten Kreisen der tschechischen politischen Eliten als Völkerkerker gesehen, der ihre nationale Entfaltung behinderte. Die Tschechen verglichen sich mit einem Kanarienvogel im goldenen Käfig: Gut behütet und gefüttert, darf dieser sein Liedchen trällern – aber nicht frei fliegen.
„Červený šátečku, kolem se toč, my jdeme na Rusa, nevíme proč!“
(„Rotes Tüchlein, dreh dich herum, wir ziehen gegen den Russen und wissen nicht, warum!“)
Dieses tschechische Soldatenlied aus der Zeit des Ersten Weltkrieges illustriert die gespaltene Haltung der Tschechen gegenüber den Kriegszielen der Habsburgermonarchie.
Jedoch war man sich der nicht vorhandenen Alternativen bewusst, denn die weitere nationale Existenz der tschechischen Nation im Rahmen der Habsburgermonarchie wurde als einzige Option gesehen. Die breite Masse der Tschechen war daher nicht gerade in heißer Liebe zu Österreich-Ungarn entbrannt, stand der Monarchie aber mehr oder weniger loyal gegenüber.
Bei Ausbruch des Krieges 1914 war die tschechische politische Szene geprägt von einer tiefen Frustration nach den vorangegangenen Misserfolgen bei den Forderungen nach Autonomie innerhalb der Monarchie. Daher war die Kriegsbegeisterung bei den Tschechen lau, obwohl den behördlich angeordneten Einberufungen Folge geleistet wurde. Es kam zu keinerlei ernsten Zwischenfällen, wie von der Armeeleitung ursprünglich befürchtet, die von einer mangelnden Loyalität unter den Tschechen überzeugt war.
Die Kriegseuphorie war jedoch deutlich gedämpfter als bei den deutschen Bürgern des Landes. Das Feindbild der Serben funktionierte in der tschechischen Öffentlichkeit nicht, denn die Tschechen zeigten Sympathien für die „slawischen Brüder“, die der österreichischen Großmacht gegenüberstanden wie einst David gegen Goliath.
Auch in Russland wurde an der Moldau nicht der große Feind gesehen. Es kam aber auch zu keinen großen Protestaktionen oder panslawistischen Agitationen, obwohl nach den anfänglichen Erfolgen der Russen am galizischen Schlachtfeld eine Reihe pro-russischer Sympathiekundgebungen begann, die aber von der Staatsgewalt sofort zum Schweigen gebracht wurden. Der Panslawismus, das große Schreckgespenst der Deutschnationalen, blieb im Mainstream der tschechischen Gesellschaft ein Minderheitenprogramm.
Wien forderte die führenden politischen Vertreter der Nationalitäten unter habsburgischer Herrschaft zum „nationalen Schulterschluss“ auf. In diesem Sinne wurde im November 1916 der Tschechische Bund (Český svaz) gegründet, der über alle Parteigrenzen hinweg ein Sammelbecken der tschechischen Abgeordneten im Reichsrat als repräsentative Vertretung der Nation darstellte.
Aufgrund des Kriegszustandes waren die Möglichkeiten der tschechischen Politik, ihre demokratischen Bemühungen und die Stärkung föderalistischer Tendenzen weiter zu verfolgen, stark eingeschränkt bzw. vereitelt. Es galt, den Ausgang des Krieges abzuwarten. Die tschechische politische Szene rechnete im Fall eines Sieges Österreich-Ungarns an der Seite Deutschlands mit einer düsteren Zukunft. Defätismus machte sich breit, man machte sich daran, ein Minimalkonzept einer Aufrechterhaltung der nationalen Existenz in einem deutsch geprägten Mitteleuropa zu entwerfen.
Die Haltung der tschechischen Politik war geprägt von Passivität. Die Mainstream-Parteien verhielten sich neutral, die Konservativen und Klerikalen verharrten in ihrer Loyalität zum Haus Habsburg. Die radikal-demokratischen oder radikal-nationalen Vertreter wurden verfolgt und zum Schweigen gebracht, indem sie zu langen Haftstrafen verurteilt oder ins Exil gedrängt wurden.
Als Beispiel sei hier der tschechische Reichstagsabgeordnete Karel Kramář (1860–1937) angeführt. Als Mandatar der Jungtschechen forderte er das Ende des pro-deutschen Kurses in der österreichischen Politik. Das Bündnis mit Deutschland sollte beendet und stattdessen eine Annäherung an Russland erzielt werden. Nach dem zu erwartenden Sieg der Russen sah er für seine Nation eine staatliche Autonomie unter dem Szepter der Romanows, vergleichbar mit der Stellung Ungarns innerhalb der Habsburgermonarchie. Im Mai 1915 wurde Kramář verhaftet, obwohl er eigentlich über eine parlamentarische Immunität verfügte. Des Hochverrats angeklagt, wurde er von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt. 1917 wurde Kramář von Kaiser Karl I. im Zuge der weitreichenden Amnestie für politisch Verfolgte freigelassen. In der Folge entwickelte sich Kramář zur führenden Figur des antiösterreichischen Lagers unter den im Inland verbliebenen Gegnern der Monarchie und sollte beim Umsturz 1918 eine führende Rolle spielen.
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Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Die Tschechen in der Habsburgermonarchie
- Wie aus den Böhmen Tschechen wurden
- Die nationalen Erwecker
- Getrennte Wege: Die Folgen der Revolution von 1848 in Böhmen
- Die Träger des tschechischen Nationalbewusstseins
- Der Ruf nach Autonomie
- Verhärtung der Fronten: Die Forderung der Tschechen nach dem Böhmischen Ausgleich
- Lösungsversuche und Eskalation: Sprachenstreit und Badeni-Krise
- Das Parteienspektrum der Tschechen
- Der Mangel an Alternativen: Die Haltung der Tschechen zur Habsburgermonarchie bei Kriegsausbruch