Unmut und Elend: Kriegsbeschädigte organisieren sich
Unmittelbar nach Kriegsende begannen Kriegsbeschädigte, sich in eigenen Vereinen zu organisieren. Zu ihrem wichtigsten Fürsprecher wurde der Zentralverband, der auch Kriegerwitwen vertrat und damit den zivilen Charakter der österreichischen Invalidenbewegung demonstrierte.
Solange die Habsburgermonarchie bestand, war es für Kriegsbeschädigte schwierig, eigene Vereine zu gründen. Zum einen unterstanden die verwundeten Soldaten auch in den Heilanstalten noch militärischer Befehlsgewalt, zum anderen registrierten die Behörden alle Organisationsbestrebungen grundsätzlich äußerst misstrauisch. Das war mit dem Ende des Krieges schlagartig anders.
Am 11. November 1918, am Tag vor der Proklamation der Republik Deutschösterreich, fand im Wiener Eisenbahnerheim die Gründungsversammlung des Zentralverbandes der deutschösterreichischen Kriegsbeschädigten statt, der innerhalb weniger Wochen zu einer machtvollen Interessenvertretung heranwachsen sollte. Die Ersten, die sich dem Verband anschlossen, waren die in den Wiener Spitälern untergebrachten Kriegsbeschädigten. Andere Betroffene – auch in ländlichen Regionen – folgten bald. Anfang 1919 begann der Verband, Mitglieder auch unter den Kriegerwitwen zu werben. So entstand in Österreich eine Organisation, die alle Kriegsopfer, nicht nur die Kriegsbeschädigten, vertrat und die viel weniger an die gemeinsam erlebte militärische Vergangenheit anknüpfte als die Kriegsbeschädigtenvereine anderer Länder, die meist auch gesunde Kriegsveteranen als Mitglieder akzeptierten. Der österreichische Zentralverband begriff sich zwar als überparteilich, er stand jedoch eindeutig der Sozialdemokratie nahe und hatte eine stark pazifistische Ausrichtung.
Als Gesprächspartner des im ersten Nachkriegsjahr vom sozialdemokratischen Minister Ferdinand Hanusch geleiteten Sozialressorts sehr geschätzt, gelang es dem Verband, viele Forderungen durchzusetzen. Zu Hilfe kam ihm dabei die Angst des Staates vor revolutionären Strömungen. Der Verband verfügte so einerseits über ein Druckmittel bei den Verhandlungen, er sorgte aber andererseits tatsächlich dafür, dass kommunistische Organisationen keinen nennenswerten Einfluss unter den Kriegsopfern erlangten. Die Organisierung in den unmittelbaren Nachkriegswochen war eine beeindruckende Demonstration erfolgreicher Selbstermächtigung: Die Habsburgermonarchie war zerfallen, die Gehorsamspflicht wie der Krieg waren zu Ende. Nun nahmen die ehemaligen Soldaten, die kriegsbeschädigt heimgekehrt waren, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand und forderten selbstbewusst und unter gezieltem Einsatz ihres symbolischen Kapitals eine adäquate Unterstützung durch den Staat.
Das Invalidenentschädigungsgesetz ist unmittelbarer Ausdruck für den Erfolg ihres Kampfes. Nicht nur war es das erste moderne Rentengesetz dieser Art in Europa, es garantierte den Kriegsbeschädigten auch erstmals in vielen Fragen ein Mitspracherecht. Dennoch folgten noch viele wütende Proteste, Kämpfe und Konflikte, Besetzungen und Demonstrationen, mit denen sich die Kriegsbeschädigten in der Zwischenkriegszeit Gehör verschafften. Der Zentralverband, der zeitweise bis zu 90 % aller Kriegsbeschädigten in seinen Reihen vereinigte, wurde für viele Jahre zu einem nicht mehr wegzudenkenden Machtfaktor im politischen Leben Österreichs.
Diehl, James M.: The Organization of German Veterans 1917–1919, in: Archiv für Sozialgeschichte, 11 (1971), 139-184
Pawlowsky, Verena/Wendelin, Harald: Mobilisierung der Immobilen – Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs organisieren sich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 22 (2011), 1: Politisch Reisen, hg. v. Gehmacher, Johanna/Harvey, Elizabeth, 185-198
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Kapitel
- Von Invalidenrenten, Verwundungszulagen, staatlichen Unterstützungen und Unterhaltsbeiträgen
- Das Scheitern der privaten Wohlfahrt
- Die Heilanstalten
- Von der Wiederherstellung zur Wiedereingliederung: Die Invalidenschulung
- Arbeit für Kriegsbeschädigte
- Helden oder Opfer? Kriegsbeschädigte in der öffentlichen Wahrnehmung
- Formen der Kriegsbeschädigung
- Unmut und Elend: Kriegsbeschädigte organisieren sich