Formen der Kriegsbeschädigung

Unter den Kriegsbeschädigten waren Männer mit Amputationen und Kriegsblinde in der Minderheit. Viele litten an Versteifungen, Lähmungen und Schmerzen infolge von Schussverletzungen. Der größte Teil der Kriegsbeschädigten aber war an unterschiedlichen Formen von Tuberkulose erkrankt.

Gemeinhin denkt man bei Kriegsbeschädigten an Soldaten, die einen Arm, ein Bein oder ihr Augenlicht verloren haben. Auch in den bildlichen Darstellungen überwiegen Amputierte und Kriegsblinde. Die in Zahlen gegossene Realität aber war eine andere. So zeigt eine Nachkriegsstatistik für den Wiener Raum, dass nur 6 % aller Kriegsbeschädigten Amputationen zu beklagen hatten und nur ein minimaler Teil der Soldaten blind aus dem Krieg zurückkehrte. Ganz Österreich zählte nach dem Krieg nur knapp 300 Kriegsblinde. Die allermeisten Kriegsbeschädigten hingegen litten an Versteifungen, Lähmungen und Schmerzen infolge von Schussverletzungen sowie – etwa 40 % aller Kriegsbeschädigten – an den vielfältigen Formen der grassierenden Tuberkulose.

Diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit verweist auf die weitgehende Unsichtbarkeit vieler Kriegsbeschädigungen. Und trotzdem waren es gerade diese versteckten und weniger spektakulären Kriegsfolgen, die für die ehemaligen Soldaten besonders quälend waren. Krankheiten, die sich Soldaten im Feld zuzogen, galten zum Beispiel anfangs noch gar nicht als explizite Kriegsbeschädigungen. Auf die nach dem Militärversorgungsgesetz den Verletzten des Krieges zustehende Verwundungszulage hatten an TBC erkrankte Soldaten gar keinen Anspruch. Auch die vielen Angebote der Umschulung waren für sie nicht passend. Eine Krankheit, die zudem nicht eindeutig im Kampf mit der Waffe erworben worden war und an der ja auch viele Zivilisten litten, schien viel weniger ehrenhaft als eine „echte“ Kriegsverletzung.

Ein Leiden, das im Ersten Weltkrieg erstmals häufig beobachtet wurde, die Ärzteschaft intensiv beschäftigte und oft aus heutiger Sicht grausame Behandlungsmethoden nach sich zog, war die Kriegsneurose. Psychische Zusammenbrüche, die sich in körperlichen Symptomen niederschlugen, ließen betroffene Soldaten als hilflose sogenannte Kriegszitterer zurück. Obwohl die Mediziner gerade diesen Männern oft unterstellten, ihr Leiden nur zu simulieren, wurde nach dem Krieg 5 % der Wiener Kriegsbeschädigten amtlich bestätigt, dass sie an einer ursächlich mit dem Krieg zusammenhängenden „Nerven- und Geisteskrankheit“ litten. Welche Verletzungen und Erkrankungen als Kriegsbeschädigungen galten, bestimmten Gesetze und Gutachter. Letztere hatten speziell bei der Einschätzung des Grades der Beschädigung eine große Definitionsmacht.

Bibliografie 

Dietrich-Daum, Elisabeth: Die „Wiener Krankheit“. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich (=Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32), München/Wien 2007

Hofer, Hans-Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien/Köln/Weimar 2004

Malleier, Elisabeth: Formen männlicher Hysterie. Die Kriegsneurosen im 1. Weltkrieg, Innsbruck 1996

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Gewalt im Krieg

    Gewalt war im Ersten Weltkrieg ein gesellschaftlich umfassendes Phänomen. Soldaten, Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder und Greise waren auf die eine oder andere Weise mit ihr konfrontiert. Wie man Gewalt erlebte war unterschiedlich: Sie wurde ausgeübt und erlitten, sie war von physischer und psychischer Prägung, sie fand auf struktureller wie individueller Ebene statt, man erfuhr sie direkt oder indirekt.

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Heimkehr

    Im November 1920 erscheint im „Neuigkeits-Welt-Blatt“ ein Bericht über die glückliche Heimkehr aller sieben Brüder der Familie Baumgartner. Sechs Brüder waren bereits unmittelbar nach Kriegsende unbeschadet von der Front zurückgekehrt, während Otto Baumgartner nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft im Jahre 1920 in Wien eintrifft. Ob verwundet oder unversehrt, aus feindlichem Gewahrsam oder nicht, waren Heimkehrer vor die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in die zivile Nachkriegswelt gestellt.

  • Objekt

    Kriegsinvalidität

    Wie kein anderer Krieg zuvor ließ der Erste Weltkrieg ein Heer von verwundeten, erkrankten und für ihr Leben gezeichneten Männern zurück. Mechanische Behelfsmittel wie diese Schreibhilfe sollten die körperliche Funktionalität der Kriegsbeschädigten wiederherstellen und deren Reintegration in den Arbeitsmarkt gewährleisten. Wie groß die Zahl derer aber tatsächlich war, die verwundet oder erkrankt von der Front zurückkehrten, war selbst Jahre nach dem Krieg nicht bekannt. 1922 dürften in Österreich etwa 143.000 Kriegsbeschädigte gelebt haben.

  • Objekt

    Gewalterfahrungen

    Während manche der Frontsoldaten das „Stahlbad des Waffenganges“ als Apotheose ihrer eigenen Männlichkeit erfuhren, litt die Mehrheit der Soldaten an ihren körperlichen und/oder psychischen Verletzungen. Die Zerstörungskraft des modernen Maschinenkriegs und die psychischen Belastungen durch das tagelange Ausharren in den Schützengräben, der Lärm des Trommelfeuers und der Anblick schwer verwundeter oder verstümmelter Kameraden produzierte neben physischen „Kriegsversehrten“ auch massenhaft psychische „Kriegsneurotiker“.