Masse und Macht: Politische Bewegungen in zeitgenössischen Filmdokumenten
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierten sich im deutschsprachigen Teil der Monarchie mit den Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen Massenparteien. Allmählich fanden diese auch Eingang in das nicht-fiktionale Filmschaffen Österreich-Ungarns.
Im Zuge der Wahlrechtsreformen, die schließlich 1907 in der westlichen Reichshälfte der Donaumonarchie zum „allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten“ Männerwahlrecht führten, verbreiterte sich die Basis der am politischen Entscheidungsprozess beteiligten Bevölkerung. Die Bildung von Massenparteien ging mit dieser Entwicklung Hand in Hand. Bei den deutschsprachigen „Untertanen“ des Kaisers entstanden mit den Sozialdemokraten, den Deutschnationalen und den Christlichsozialen drei maßgebliche weltanschauliche Lager.
Die politischen Parteien fanden nur ansatzweise Einlass in den filmischen Kanon der Habsburgermonarchie. Es waren vor allem außergewöhnliche, bisweilen gewalttätige Ereignisse, die internationale Produktionsfirmen dazu veranlassten, Kamerateams mit Aufnahmen zu parteipolitischen Hintergründen zu beauftragen. Ein solcher Fall, der allen voran die Gegensätze der einzelnen Lager klar verdeutlichte, war die Ermordung des sozialdemokratischen Arbeiterführers Franz Schuhmeier im Jahr 1913. Anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten formierte sich die Masse der Arbeiterschaft, die Einigkeit demonstrierte und sich als politische Kraft präsentierte. Eine politische Gegenkultur war im Entstehen und sollte später auch kinematographisch zum Ausdruck kommen („Das Leichenbegängnis des Reichtagsabgeordneten Franz Schuhmeier“, A/F 1913). Noch bildete diese politisch motivierte, gewaltsame Einzeltat, ausgeführt von Paul Kunschak, dem Bruder des christlichsozialen Parteifunktionärs Leopold Kunschak, eine Ausnahme. Der Streit zwischen christlichen und marxistischen Ideen eskalierte nach 1918. Bis dahin dominierten ethnische Konflikte.
Die bekannteste politisch gewählte, und bis heute umstrittenste, Persönlichkeit der Jahrhundertwende war zweifellos der langjährige Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Er bediente sich weit verbreiteter antikapitalistischer, antisemitischer und antiliberaler Strömungen. Lueger, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, gab sich stets volksnah, hatte ein sicheres Gespür für Stimmungen und redete dem Volk nach dem Mund. Das Kleinbürgertum, jene, die sich benachteiligt fühlten, konnte der charismatische Redner für sich gewinnen. Die an der Misere des „kleinen Mannes“ Schuldigen waren für ihn schnell gefunden: die Aristokratie, die „jüdische“ Intelligenz und Hochfinanz, die „Ostjuden“ und letztlich auch die Sozialdemokratie als „Judenschutztruppe“. Für Lueger war der Antisemitismus vor allem Mittel zum Zweck, ein Instrument, um die Massen anzusprechen, doch er schürte damit tiefliegende Ressentiments. Mit seiner fortschrittlichen Kommunalpolitik (Gas-, Strom- und Wasserversorgung, Errichtung von Spitälern, Bädern, Schulen und Grünanlagen, Sicherung des öffentlichen Nahverkehrs und Einführung der städtischen Bestattung) macht er Wien zur modernen Metropole und wurde zum „Volkskaiser“, zum „Herrgott von Wien“. Sein antijüdischer Populismus ließ ihn aber auch zum „Vater des modernen Antisemitismus“ avancieren.
Zwei zeitgenössische Filmdokumente widmen sich Karl Lueger. Eine Aufnahme zeigt den von seiner schweren Krankheit bereits gezeichneten Bürgermeister anlässlich seines 64. Geburtstages umringt von Gratulanten, Bewunderern und Gesinnungsgenossen („Dr. Karl Luegers Geburtstag 1908 in Lovrano“, A 1908). Sein prunkvolles Begräbnis 1910 verweist auf seine große Popularität: Die Stadt ist schwarz beflaggt, mehr als tausend Kutschen folgen dem Kondukt, Menschenmassen säumen die Straßen. Die Besonderheit dieses Schauspiels, gepaart mit einem Schuss Voyeurismus, hatte die Kinematographie erkannt. Sie war immer dabei, wenn Adel und Kaiser, Politiker und Künstler ihren letzten Weg antraten. Ablesbar wird das Protokoll einer Inszenierung: Schmuck und Entourage, Trauergäste und beobachtendes (hier aber auch beobachtetes) Volk sind Teil des Spektakels. Viele dieser von vornehmlich staatlichen, aber auch privaten Unternehmen beauftragten Aufnahmen haben längst Eingang in das visuelle Gedächtnis der Nation gefunden, so auch „Das Begräbnis des Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger im März 1910“.
Boyer, John W.: Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, Wien 2010
Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 2001
Moser, Karin: Wien 1910: Karl Lueger und das andere Wien der Jahrhundertwende; in: filmarchiv, Nr. 68, Mai/Juni 2010, 52-55
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Kapitel
- Filmische Faszination: die Maschine in der Kriegspropaganda
- Mobiles Erwachen im Film: Das Erobern neuer Räume
- Geschwindigkeitsrausch im Film: Heroen der Fahrbahn und der Lüfte
- Vom Fahren und Reisen: Fremdenverkehr und Tourismusfilme
- Filmischer Ausnahmezustand: Der Wiener Prater
- Bewegungsfreiheit gefilmt – Sport, Turnier- und Körperkultur
- Masse und Macht: Politische Bewegungen in zeitgenössischen Filmdokumenten